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NSU: Stracke: "Man hat Rechts-Terrorismus nicht für möglich gehalten"

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Stracke: "Man hat Rechts-Terrorismus nicht für möglich gehalten"

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    Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags soll die Pannen und Fehlgriffe bei den Ermittlungen zu der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) angelasteten Mordserie durchleuchten.
    Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags soll die Pannen und Fehlgriffe bei den Ermittlungen zu der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) angelasteten Mordserie durchleuchten. Foto: dpa

    Herr Stracke, wie viele NSU-Akten lagern derzeit in Ihrem Büro?

    Stephan Stracke: Mein kompletter Büroschrank ist voll mit Unterlagen. Insgesamt hat der Untersuchungsausschuss weit über 4000 Akten von Bund und Ländern erhalten, rund 50 Zeugen gehört und tausende Unterlagen gesichtet. Und genauso viele liegen sicherlich noch vor uns.

    Klingt nach einem zeitraubenden "Nebenjob".

    Stracke: Ein Nebenjob ist es gewiss nicht. Es geht dabei auch um viel: Die Frage, wie wir nach den Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds die deutsche Sicherheitsarchitektur verbessern und das erschütterte Vertrauen wieder herstellen können.

    Im Januar ist der Untersuchungsausschuss vom Bundestag eingesetzt worden. Können Sie inzwischen sagen, dass Sie das komplette Geflecht rund um den NSU durchblicken?

    Stracke: Unser Auftrag umfasst die Jahre 1992 bis 2011 - also einen sehr großen Zeitraum. Wir sind noch lange nicht fertig. Aber es zeichnet sich ein erstes Bild ab, was an Fehlern - auch individuellen - gemacht wurde, und was notwenig ist, um das so wichtige Vertrauen in die Sicherheitsbehörden wieder herzustellen.

    Und wie sieht dieses Bild aus?

    Stracke: Grundsätzlich kann man sagen, dass die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern gute Arbeit leisten - auch wenn sie in diesem Fall erfolglos waren. Allerdings zeigt sich, dass wir die Zusammenarbeit der einzelnen Stellen deutlich verbessern müssen. Hier gibt es viel Optimierungspotenzial – gerade was den Informationsaustausch betrifft, aber auch den rechtlichen Rahmen. Außerdem müssen die Sicherheitsbehörden die notwenigen Instrumente an die Hand bekommen. Stichwort: Verbunddatei Rechtsextremismus.

    Das klingt recht nüchtern. Dabei kann man wohl nicht leugnen, dass der Ausschuss Pannen bei Behörden ans Tageslicht gefördert hat, die in Deutschland bisher wohl einmalig sind…

    Stracke: Nein, das ist unbestritten. Und ich will betonen: die einmalig sind.

    Was hat Sie mehr schockiert: Der Dilettantismus bei den Sicherheitsbehörden, oder die Tatsache, dass manche Verbrechen des Terrortrios eventuell hätte verhindert werden können?

    Stracke: Was man insgesamt feststellen kann: Die Gefahr von Rechtsterrorismus wurde grundsätzlich nicht für möglich gehalten. Das war eine fatale Fehleinschätzung. 

    Die erste in einer Serie von Pannen…

    Stracke: Da müssen wir jetzt aber konkret machen, von was wir reden. Reden wir von Fehlern bei den Ermittlungen zur Mordserie und zu den beiden Sprengstoffanschlägen? Oder reden wir von Dingen, die vermeintlich falsch gelaufen sind, aber die der Rechtslage geschuldet waren? Oder meinen wir den Umgang mit dem Untersuchungsausschuss? Da ist es sicherlich zu Versäumnissen gekommen.

    Zum Beispiel?

    Stracke: Bei der Aktenvorlage, bei der wir als Untersuchungsausschuss auf eine vollständige und zügige Zuarbeit angewiesen sind. Obwohl man auch hier sagen muss: Nicht jedes Versäumnis ist gleich ein Skandal.

    Wenn wir uns einige Fälle trotzdem mal genauer ansehen: Beim Bundesamt  für Verfassungsschutz und der Landesbehörde in Berlin wurden womöglich wertvolle Akten geschreddert. Und beim Militärischen Abschirmdienst (MAD) hat man vergessen, in den 90er Jahren ein Dossier über Uwe Mundlos angelegt zu habe. Gibt es so viele unglückliche Zufälle?

    Stracke: Ich bin kein Verschwörungstheoretiker. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, jeden Einzelfall zu beleuchten und zu bewerten.

    Aber man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um die Vorgänge seltsam zu finden…

    Stracke: Was das Aktenschreddern beim Bundesamt für Verfassungsschutz angeht, hat das Innenministerium eine ausführliche Aufklärung betrieben. Wo wir im Untersuchungsausschuss hellhörig werden, ist die Frage: War das Terror-Trio oder einzelne seiner Mitglieder in irgendeiner Weise Informant eines Nachrichtendienstes? Und da muss man sagen: Alle Informationen, die wir haben, widerlegen diese Annahme.

    Das Neonazi-Trio und seine mutmaßlichen Helfer

    UWE MUNDLOS: Der Professorensohn gilt als intellektueller Kopf der Terrorzelle. Am 4. November tötete sich der 38-Jährige selbst in einem Wohnmobil.

    UWE BÖHNHARDT: Der 34-Jährige soll ein Waffennarr gewesen sein, der schnell und gerne zuschlug. Auch er wurde am 4. November tot in dem ausgebrannten Wohnmobil gefunden, wohl von Mundlos erschossen.

    BEATE ZSCHÄPE: Die 37-Jährige ist als Mittäterin wegen Mordes angeklagt. Sie stammt aus zerrütteten Verhältnissen. Aufgefallen ist die erstmal als 17-Jährige bei mehreren Ladendiebstählen. In einem Jugendclub im Jenaer Plattenbaugebiet Winzerla lernte sie Uwe Mundlos kennen. Mit Uwe Böhnhardt hatte sie später eine Beziehung. Nachdem sie am 4. November 2011 die konspirative Wohnung der Gruppe in die Luft gesprengt hatte, fuhr Zschäpe tagelang mit der Bahn tagelang kreuz und quer durch Deutschland, bevor sie sich der Polizei stellte.

    RALF WOHLLEBEN: Der ehemalige NPD-Funktionär sitzt seit dem 29. November 2011 in Untersuchungshaft. Er soll dem Terrortrio 1998 beim Untertauchen finanziell geholfen, ihnen Geld und auch die spätere Tatwaffe zukommen lassen haben. Der 37-jährige Fachinformatiker ist inzwischen zwar nicht mehr NPD-Mitglied. Dass er noch als NPD-Funktionär die NSU unterstützt hat, gilt aber als wichtiges Argument für ein mögliches neues NPD-Verbotsverfahren.

    HOLGER G.: Der am 14. Mai 1974 in Jena geborene G. war der erste mutmaßliche NSU-Helfer, den die Polizei festnahm. G. soll seit Ende der 90er Jahre Kontakt mit dem aus Thüringen stammenden Trio gehabt haben. Den Dreien soll er seinen Führerschein, eine Krankenversichertenkarte und noch im Jahr 2011 einen Reisepass überlassen haben. So soll er ihnen ermöglicht haben, weiterhin verborgen zu agieren und rechtsextreme Gewalttaten zu verüben.

    CARSTEN S.: Der 32-Jährige soll zusammen mit Ralf Wohlleben die Tatwaffe zu den Morden beschafft haben. Nachdem S. umfassend ausgepackt hatte, ließ ihn die Bundesanwaltschaft im Mai nach viermonatiger Untersuchungshaft wieder frei. S. sagte sich nach Auffassung der Ermittler glaubhaft vom Rechtsextremismus los. Außerdem war er zur Tatzeit erst 19 Jahre alt, ihm könnte nach dem milderen Jugendstrafrecht der Prozess gemacht werden.

    ANDRE E.: Dem aus Sachsen stammenden 33-Jährigen wirft die Bundesanwaltschaft Beihilfe zum Sprengstoffanschlag des NSU in der Kölner Altstadt vor. E. soll eine enge Bindung zu dem Trio unterhalten haben. Im Jahr 2006 gab er Zschäpe als seine Ehefrau aus. Er soll den Wohnort der Drei verschleiert haben und ihnen seit dem Jahr 2009 Bahncards beschafft haben. Diese waren auf ihn und seine Frau ausgestellt, jedoch mit den Fotos von Zschäpe und Uwe Böhnhardt versehen.

    Der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm sagte in seiner Anhörung im Untersuchungsausschuss zur Aktenvernichtung, er fühle sich von den Mitarbeitern seiner Behörde "hinters Licht geführt". Da fragt man sich doch unweigerlich: Wo liegt das Motiv für solche Vorgänge?

    Stracke: Natürlich. Und der Frage gehen wir auch nach. Festzuhalten ist aber, dass wir bislang keinen Ansatzpunkt dafür gefunden haben, dass Akten vernichtet werden sollten, die uns Aufklärung über die Mitglieder oder Taten der Terrorgruppe hätten geben können.

    Haben Sie Verständnis, wenn - vor allem ausländische Mitbürger – sagen, sie haben das Vertrauen in den deutschen Sicherheitsapparat verloren?

    Stracke: Das kann ich nachvollziehen. Deswegen ist es so wichtig, erstens zu zeigen, dass konsequent aufgeklärt wird. Wir kehren nämlich das Unterste nach oben. Und zweitens kommt es darauf an, das zu ändern, was geändert werden muss.

    Einen großen Anteil an der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen schreibt man dem Prozess gegen Beate Zschäpe zu, der kommendes Jahr in München beginnen soll. Was erwarten Sie sich davon?

    Stracke: Im besten Fall Hilfestellung für unsere Arbeit. Aufklärung. Vieles wird aber davon abhängen, ob sich Beate Zschäpe dazu entschließt, auszusagen - und zwar wahrheitsgemäß. Fest steht, dass es wohl ein sehr langer und umfangreicher Prozess wird. Der Untersuchungsausschuss hat daher vorab Einsicht in die Anklageakten beantragt.

    Wie bewerten Sie die Arbeit der Untersuchungsausschüsse von Bund und Ländern bisher? Fünf Geheimdienstleiter mussten ihren Platz räumen, der Verfassungsschutz soll neu strukturiert werden. Sind Sie damit zufrieden?

    Stracke: Ich messe die Ergebnisse nicht an der Anzahl der Behördenleiter, die ausgewechselt wurden, sondern daran, was sich tatsächlich verändert. Die Maßgabe muss sein, zu klären, wo Fehler dabei gemacht wurden, den Tätern auf die Spur zu kommen. Und bislang haben wir nur wenige echte Fehler identifizieren können.

    Welche denn?

    Stracke: Einer der maßgeblichen Fehler war das Jahr 2004, als der Sprengstoffanschlag in Köln verübt wurde. Er hätte die Behörden auf die Spur der Täter führen müssen. Es gab Videos, auf denen zwei Männer mit Fahrrädern zu sehen sind. Es gab ein Verfassungsschutz-Dossier, in dem Sprengstoffanschläge von Rechtsextremen analysiert werden und in dem auch das Terrortrio vorkommt. Und es wurde die Sprengstoffdatei des Bundeskriminalamts  nur unvollständig abgefragt. Wäre hier sorgfältig gearbeitet worden, wäre man auf das Terrortrio gekommen. Für mich ist es unglaublich, dass der damalige Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Fritz Behrens, lieber seine Umzugskisten ausgepackt hat, als die Dinge persönlich vor Ort zu regeln.

    Die Reformpläne für den Verfassungsschutzes, die die Innenminister ausgearbeitet haben, sehen unter anderem vor, die zentrale Stellung des Bundesamtes zu stärken. Zudem soll die Kommunikation der Behörden untereinander verbessert und eine zentrales Register für V-Männer eingeführt werden, damit ein Tohuwabohu wie bei den NSU Ermittlungen künftig nicht mehr vorkommt. Greifen die Reformen weit genug?

    Stracke: Sie zielen in die richtige Richtung. Der Informationsaustausch muss klar verbessert werden. Das ist für mich bisher die wesentliche Erkenntnis aus dem Untersuchungsausschuss. Was allerdings den V-Mann-Einsatz  im rechten Bereich angeht, bin ich zurückhaltend. Und ich finde auch, da sollten die Behörden in Zukunft zurückhaltender sein.

    Das ist Beate Zschäpe

    Beate Zschäpe wurde am 2. Januar 1975 in Jena geboren. Dem Hauptschulabschluss folgte eine Ausbildung als Gärtnerin.

    Von Mitte 1992 bis Herbst 1997 ging Beate Zschäpe einer Arbeit nach, zweimal unterbrochen von Arbeitslosigkeit. So steht es in einem Bericht des ehemaligen Bundesrichters Gerhard Schäfer für die Thüringer Landesregierung. «Ihre Hauptbezugsperson in der Familie war die Großmutter», heißt es weiter.

    Mit dem Gesetz kam Zschäpe erstmals als 17-Jährige in Konflikt. Der Schäfer-Bericht vermerkt 1992 mehrere Ladendiebstähle. 1995 wurde sie vom Amtsgericht Jena wegen «Diebstahls geringwertiger Sachen» zu einer Geldstrafe verurteilt.

    Zu der Zeit war sie aber häufiger Gast im Jugendclub im Jenaer Plattenbaugebiet Winzerla, bald an der Seite des Rechtsextremen Mundlos. Über das ungewöhnliche Dreiecksverhältnis zwischen ihr, Mundlos und Böhnhardt ist viel spekuliert worden.

    Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt beteiligten sich zu der Zeit an Neonazi-Aufmärschen im ganzen Land.

    Im Alter von 23 Jahren verschwand die junge Frau mit den beiden Männern aus Jena von der Bildfläche. Zuvor hatte die Polizei ihre Bombenbauerwerkstatt in der Thüringer Universitätsstadt entdeckt.

    Danach agierte Zschäpe mit einer Handvoll Aliasnamen: Sie nannte sich unter anderem Silvia, Lisa Pohl, Mandy S. oder Susann D. Zeugen beschrieben sie als freundlich, kontaktfreudig und kinderlieb. Bei Diskussionen in der Szene soll sie jedoch die radikaleren Positionen ihrer beiden Kumpane unterstützt haben.

    Nach der Explosion in Zwickau am 4. November 2011 war Zschäpe mit der Bahn tagelang kreuz und quer durch Deutschland unterwegs. Sie verschickte auch die NSU-Videos mit dem menschenverachtenden Paulchen-Panther-Bildern. Am 8. November stellte sie sich der Polizei in Jena.

    Im Prozess schwieg Zschäpe lange Zeit. An Verhandlungstag 211, im Juni 2015, antwortete sie dem Richter ein erstes Mal, und zwar auf die Frage, ob sie überhaupt bei der Sache sei.

    Zu den Vorwürfen äußerte sich Zschäpe erstmal im September 2015. Ihr Verteidiger las das 53-seitige Dokument vor, in dem Zschäpe ihre Beteiligung an den Morden und ihre Mitgliedschaft im NSU bestritt. Lediglich die Brandstiftung in der letzten Fluchtwohnung des Trios gestand sie.

    Ein psychologisches Gutachten aus dem Januar 2017 beschreibt Zschäpe als "voll schuldfähig".

    Denn die Qualität der Informationen, die wir hier bekommen, ist sehr fragwürdig. Gleichzeitig warne ich davor, gänzlich auf einen Einsatz von V-Männern zu verzichten. Das hielte ich für ein Risiko. Oft ist es die einzige Möglichkeit, Informationen aus geschlossenen Gruppen wie der rechten Szene zu erhalten.

    Eng mit der V-Mann-Frage einher geht auch das Thema neues NPD-Verbot. Ihr Parteikollege und  Innenminister Hans-Peter Friedrich und auch andere Kollegen in der Union sind allerdings nach wie vor skeptisch.

    Stracke: Erstens: Ein zweites NPD-Verbotsverfahren muss man unabhängig sehen von der Arbeit des Untersuchungsausschusses. Das hat damit nichts zu tun. Es war die SPD, die hier einen Zusammenhang herstellen wollte und den Ausschuss mit der These belastet hat, der NSU war quasi der verlängerte Arm der NPD. Das lässt sich mit den derzeitigen Erkenntnissen nicht stützen. Zweitens: Die Länder sind davon überzeugt, dass sie nun genug wertiges Material zusammengestellt haben, das einen zweiten Verbotsantrag tragen könnte. Wir als Bundestag müssen nun das Material ebenfalls auswerten. Und wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass das Material trotz der bekannten Risiken ein neues Verbotsverfahren trägt, sollten wir zumindest dem Verfahren beitreten.

    Der Untersuchungsausschuss muss noch in dieser Legislaturperiode zum Abschluss kommen. Darf sich die Öffentlichkeit darauf einstellen, dass in dieser Zeit noch weitere Pannen ans Tageslicht kommen?

    Stracke: Der Untersuchungsausschuss hat sicherlich mehr ans Tageslicht gefördert, als ihm viele im Vorfeld zugetraut hätten. Insofern ist keinesfalls etwas auszuschließen. Und wenn es der Aufklärung Not tut und die entsprechenden Konsequenzen daraus gezogen werden, schrecke ich vor nichts zurück. Ich will es nicht hoffen, dass weiter Pannen bekannt werden - auszuschließen ist es den Erfahrungen nach aber nicht.

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