„Man muss seine Freiheit erkämpfen“, über dieses Thema haben Sie, Frau Ates, vor einigen Tagen in Augsburg gesprochen. Dabei ging es um interreligiösen Frauendialog. Warum ist dieser Punkt für Sie so wichtig?
Seyran Ates: Ich bin viel unterwegs. Und spreche über die Sachen, die mir wichtig sind. Ein großes Thema ist Migration, große Themen sind Patriarchat und Frauenrechte. Ich habe gelernt, dass es sehr wichtig ist, an den Orten zu sein, an denen darüber zu speziellen Anlässen auf eine spezielle Art gesprochen wird. Deswegen bin ich gerne hier in Augsburg. Aber nicht nur deswegen.
Warum denn noch?
Ates: Auch weil es die Geburtsstadt von Bertolt Brecht ist, einem meiner Lieblingsdichter und -denker. Ich liebe seine Sätze wie „Wer A sagt, muss nicht B sagen“ oder „Wenn Recht Unrecht wird, dann wird Widerstand zur Pflicht“. Das sind Sätze, die mich in meiner Jugend begleitet haben.
Brecht wurde ja viele Jahre lang nicht sehr geschätzt in Augsburg.
Ates: Ja. Das ist unglaublich. Gerade solche Biografien haben mich beeinflusst. Weil ich akzeptiere, dass man in seinem Leben seiner Zeit oder der Politik voraus sein kann. So geht es mir manchmal auch. Brecht wurde für seine Denkansätze ignoriert und angefeindet. Jetzt gibt es das Brecht-Haus und er wird anlässlich der Brecht-Tage gefeiert. Für mich war Deutschland immer ein Land der Dichter und Denker. Augsburg ist der Ort des Religionsfriedens von 1555 und heute der Friedensgespräche und des Friedensfestes. Also einer der wichtigen Orte für religiösen Dialog und religionskritische Auseinandersetzungen.
Das ist ja auch ein zentrales Thema in Ihrem Leben. Es ist heute zwei Jahre her, seitdem Sie in Berlin Ihr Moschee-Projekt gestartet haben. Dort wird ein liberaler Islam gelehrt.
Ates: Dieses zentrale Thema ist der Grund, warum ich mit der „Ibn-Rushd-Goethe-Moschee“ in eine Kirche eingezogen bin. Ich bin Initiatorin und habe auch den Raum gefunden. Das heißt, ich habe ganz bewusst diese Entscheidung getroffen.
Wie hat sich das Projekt entwickelt?
Ates: Ein großer Erfolg. Wir suchen größere Räume.
Für die wissbegierige Seyran Ates spielte die Schule eine wichtige Rolle
Sie kommen aus einem traditionellen Elternhaus, haben sich der repressiven Erziehung aber mit 17 Jahren durch Flucht aus diesen Familienverhältnissen entzogen. Woher nahmen Sie diese Kraft und diesen Mut?
Ates: Genau, ich bin mit 17 Jahren von zu Hause abgehauen. Der Vater war ein assimilierter Kurde, die Mutter Türkin. Ich wurde recht früh politisiert.
Aber kaum durch die Eltern, oder?
Ates: Im Gegenteil. Ich habe das Leid und die Unterdrückung aufgrund meines Geschlechts hautnah erlebt. Ich hatte meiner Mama im Haushalt zu helfen. Ich war ein Kind, das geschlagen wurde, weil ich ein Buch gelesen habe. Es hieß, vom Lesen wird die Wohnung nicht sauber. Also hat sie mir eine verpasst, ich musste aufstehen und den Haushalt machen. Das waren Situationen, die mich sehr geprägt haben. Ich habe damals den Film „Roots“ über die Sklaverei in Amerika gesehen und mich darin wiedergefunden.
Welche Rolle spielte die Schule?
Ates: Eine große Rolle, weil ich dort die frei denkende, neugierige und wissbegierige Seyran sein durfte. Der evangelische Religionsunterricht, in dem es hieß „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ hat mir Kraft gegeben. Mit 15 wurde ich Schulsprecherin. Und da war ja noch die Hoffnung, dass es besser wird. Ich wusste, dass man in Deutschland mit 18 Jahren sein eigenes Leben leben darf.
Sie streiten seit vielen Jahren gegen die Benachteiligung von Mädchen und Frauen. Das ist ja nun nicht nur ein muslimisches Problem. Wächst das Bewusstsein für dieses Problem in Deutschland?
Ates: Sehr marginal. Traurigerweise.
Zuletzt gab es doch einige Beispiele von Frauen, die in hohe politische Ämter gelangt sind. Sehen Sie hier keine Ansätze für einen Trend?
Ates: Gut, wir haben eine Kanzlerin Merkel, wir haben eine EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, wir haben mit Kramp-Karrenbauer eine Verteidigungsministerin. Aber ich erlebe diese Frauen nicht als Feministinnen.
Ist es nicht auch schon eine Form von Feminismus, wenn man das als Frau einfach macht?
Ates: Das Machen ist teilweise schon eine Form davon. Es wird ins Patriarchat eingegriffen. Aber das ist am Ende nur die halbe Wahrheit. Denn die drei Politikerinnen füllen ihre Machtposition aus, indem sie das Patriarchat weiterführen. Ich hatte mit allen von ihnen schon sehr gute Gespräche. Aber ich sehe nicht, dass sie für die Dinge, für die ich mich einsetze, ein offenes Ohr haben. Den politischen Islam und die Gefahren durch die Aktivitäten der Muslimbrüder und anderer Kräfte verharmlosen sie oder sehen sie gar nicht. So ist jedenfalls mein Eindruck.
Für Seyran Ates ist das Kopftuch kein religiöses Symbol des Islam
Sie mischen seit Jahren im Streit um das Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit mit. Allerdings sagen Sie, dass es sich dabei für Sie nicht um ein religiöses Symbol handelt.
Ates: Der Islam kennt gar keine religiösen Symbole. Theologisch betrachtet ist die Diskussion schon deshalb schräg. Das Kopftuch ist eine Kleidungsvorschrift aufgrund einer sehr orthodoxen Sitte und Moralvorstellung. Nämlich, dass Frauen allein schon durch ihren Körper, durch ihre Haare in der Öffentlichkeit in erster Linie als sexuelle Wesen wirken. Damit sind Frauen und Mädchen zu Sexualobjekten degradiert. Diese Degradierung hat sich heute schon so weit fortentwickelt, dass bereits kleine Mädchen hauptsächlich als sexuelle Wesen gesehen werden. Also müssen auch sie bedeckt werden, damit Männer in der Öffentlichkeit nicht durch sie gereizt werden.
Bei diesem Thema rasseln Sie immer wieder mit Feministinnen, mit Politikern der Grünen oder der Linken zusammen. Sehen Sie in deren Position falsch verstandene Toleranz?
Ates: Was ich gewissen Feministinnen oder Linken vorwerfe, ist, dass sie die Sexualisierung in der Werbung oder in Filmen scharf kritisieren, aber wenn es um das Kopftuch geht, vor einer Einschränkung der Religionsfreiheit warnen.
Akzeptieren wir bei Flüchtlingen Dinge, die in Deutschland eigentlich schon lange verpönt sind?
Ates: Ja, und zwar nicht nur, wenn es um Kopftücher geht. Gerade jetzt mit den Geflüchteten kommen die Themen Kinderehe, Zwangsehe und Religiosität verstärkt wieder auf. Wenn es um Kinder geht, die im Alter von 14 oder 15 Jahren verheiratet werden, gibt es Leute, die die Altersgrenzen heruntersetzen wollen, damit man diese Ehen aufrechterhalten kann.
Woran liegt das? Gibt es tatsächlich bei Linken oder Grünen den Reflex, dass alle, die aus dem Ausland zu uns kommen, erst einmal sympathischer sind?
Ates: Absolut. Dieser Selbsthass tut mir wirklich weh – als türkisch-kurdische Deutsche. Die 68er haben sich aufgelehnt gegen die Generation ihrer Eltern, gegen Politiker, Juristen, gegen Entscheidungsträger aus der Nazizeit, die nach dem Krieg immer noch da waren. Es ging ihnen um Demokratie und eine offene Zivilgesellschaft. Das war ein wunderbarer Ansatz. Doch ausgerechnet diese Leute haben plötzlich Verständnis für Islamisten und stellen Leute wie mich in eine rechte Ecke. So spaltet man.
Die Moschee-Gründerin Ates vertritt einen liberalen Islam
Wie wollen Sie den gesellschaftlichen Wandel des Islam erreichen?
Ates: Wir machen es ein bisschen wie die 68er. Wir fordern unsere Eltern heraus. Wir wollen einen liberalen Islam. Wir wollen über das Schicksal der Armenier oder die Unterdrückung der Kurden sprechen.
Als Vertreterin eines liberalen Islams werden sie doch von vielen Muslimen gehasst?
Ates: Es gibt muslimische Migranten und Organisationen, wie die Muslimbrüder, die in manchen Belangen sogar rechts von der AfD stehen. Dafür sind Teile aus dem linken Milieu blind. Im Übrigen sehe ich die Ursache dafür, dass es die AfD gibt, darin, dass die etablierten Parteien Themen wie die Migration lange verpennt haben. Wir brauchen keine Opferdiskurse und wir brauchen keinen Deutschenhass. Wir brauchen keine selbst ernannten Ausländerfreunde, die ganz entsetzt sind, wenn man sagt, dass viele Menschen auch wegen der deutschen Kultur zu uns wollen. Ich kann nicht mehr hören, dass die islamische Identität von einigen gefeiert wird, die aber gleichzeitig die deutschen Identitären – natürlich zu Recht – verachten. Dabei bemerken sie nicht, wie ähnlich, auch was das Frauenbild betrifft, beide Gruppen sich sind.
Skeptiker sehen den politisch-religiösen Extremismus auf dem Vormarsch. Befällt Sie nicht manchmal ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit?
Ates: Überhaupt nicht. Die Zahl derer, die sich gegen den politischen Islam wenden, steigt weltweit. Im Iran und auch in der Türkei findet unter der Oberfläche beispielsweise längst eine sexuelle Revolution statt. Die Leute sehnen sich nach Freiheit. Auch in Katar, Saudi-Arabien oder in Nordafrika.
Sie wurden im Jahr 1984 angeschossen, werden immer wieder angefeindet und bedroht. Sie stehen unter Dauer-Polizeischutz. Dennoch wirken Sie bei Auftritten unbefangen. Wie machen Sie das?
Ates: Sechs Jahre war mein Arm gelähmt, die Kugel steckte im Halswirbel. Es hat lange gedauert, bis ich wieder in die Öffentlichkeit konnte. Ich habe viele Male probiert, mich zurückzuziehen. Doch ich habe jedes Mal gemerkt: Der Mensch hat sein Leben und seine Aufgabe. Und mir sind meine Themen immer wieder vor die Füße oder auf die Nase gefallen. Ich konnte nicht den Mund halten. Wenn es aber diesen permanenten Schutz durch Sicherheitsbeamte nicht gäbe, würde ich irgendwo Ziegen hüten und Käse verkaufen oder eine andere Arbeit machen.