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Interview: Missbrauchsforscher Dreßing: „Erst Druck brachte die Kirche zur Einsicht“

Interview

Missbrauchsforscher Dreßing: „Erst Druck brachte die Kirche zur Einsicht“

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    „Homophobe Einstellungen innerhalb der Kirche sind ein Risikofaktor“, sagt Harald Dreßing. Er ist forensischer Psychiater und unter anderem auch als Gutachter in Strafprozessen tätig.
    „Homophobe Einstellungen innerhalb der Kirche sind ein Risikofaktor“, sagt Harald Dreßing. Er ist forensischer Psychiater und unter anderem auch als Gutachter in Strafprozessen tätig. Foto: Arne Dedert, dpa (Archivfoto)

    Herr Professor Dreßing, das Erzbistum Köln hat Mitte März ein Gutachten zum Umgang hochrangiger Verantwortungsträger mit Missbrauchsfällen veröffentlicht. Welchen Erkenntnisgewinn brachte es für Sie?

    Harald Dreßing: Ehrlich gesagt brachte es mir wenig Erkenntnisgewinn. Wie die meisten Untersuchungen im Nachgang zur „MHG“-Studie.

    Sie leiteten die MHG-Studie, die die deutschen katholischen Bischöfe in Auftrag gegeben hatten. Ihr Befund: 1670 Geistliche sollen zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3677 Kinder und Jugendliche, überwiegend minderjährige Jungen, missbraucht haben.

    Dreßing: Das Kölner Gercke-Gutachten ist im Unterschied dazu keine wissenschaftliche Studie, sondern eben ein rein juristisches Gutachten. Mit fast schon trivialem Ergebnis: Es war klar, dass Missbrauchsfälle vertuscht wurden und dass dafür die Verantwortungsträger der Diözese verantwortlich sind. Die Namen, die in Köln genannt wurden, haben mich insofern nicht überrascht. Mich hat eher überrascht, wie wenige Namen genannt wurden. Ein Bischof oder Generalvikar ist ja nicht im luftleeren Raum tätig.

    „Nichts geahnt, das ist seit heute nicht mehr möglich“: der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki bei der Vorstellung des Gercke-Gutachtens Mitte März.
    „Nichts geahnt, das ist seit heute nicht mehr möglich“: der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki bei der Vorstellung des Gercke-Gutachtens Mitte März. Foto: Ina Fassbender, afp/dpa

    Eine Kritik am Gercke-Gutachten lautete, es blende die Frage moralischer Verantwortung vollkommen aus.

    Dreßing: Solche Untersuchungen sind nur weiterführend, wenn sie die Sichtweise der Betroffenen sexualisierter Gewalt mit einbeziehen...

    ...was in Köln nicht geschah.

    Dreßing: Und sie sind nur weiterführend, wenn sie sich nicht nur auf straf- oder kirchenrechtliche Verfehlungen beziehen. Es ist mir zu einfach, wenn sich der Kölner Kardinal Woelki jetzt hinstellt und sagt, ihm sei straf- und kirchenrechtlich nichts vorzuwerfen. Verantwortung muss man schon weiter fassen.

    Seit 2010 reden wir vom Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Wie erklären Sie sich, dass so viel Zeit verging, bis für das Erzbistum Köln belastbare Fallzahlen festgestellt wurden – und dass man in anderen Bistümern noch nicht einmal so weit ist?

    Dreßing: Die 2018 vorgestellte MHG-Studie bezog sich auf alle 27 deutschen Bistümer, nicht auf einzelne. Das war vertraglich so geregelt, und darauf haben wir uns eingelassen. Im Nachgang haben Diözesen eigene Zahlen berichtet. Wir haben das vertragsgemäß nicht kommentiert. Warum es so lange dauerte? Nun, es wurde viel vertuscht. Der Schutz der Institution und der geweihten Priester stand deutlich vor den Interessen der Betroffenen. Was wir heute über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche wissen, ist nicht auf deren Eigeninitiative hin zustande gekommen, sondern aufgrund des Drucks und Beharrungsvermögens der Betroffenen und der Öffentlichkeit. Dennoch sind wir im Aufarbeitungsprozess immer noch nicht sonderlich weit.

    Dreßing: Die Rücktrittsangebote von Schwaderlapp und Heße kamen "sicher viel zu spät"

    Namen von Verantwortlichen durften Sie in Ihrer Studie nicht nennen. Wie wichtig ist das aber für Betroffene?

    Dreßing: Sehr. Die Nennung von Namen hat gleichwohl Grenzen. Denn natürlich haben auch Beschuldigte Persönlichkeitsrechte.

    2019 sagten Sie, dass Sie Rücktritte, auch von Bischöfen, erwarteten. Aber erst nach der Vorstellung des Kölner Gercke-Gutachtens boten Weihbischof Schwaderlapp und der frühere Kölner Generalvikar Heße, zuletzt Erzbischof von Hamburg, dem Papst ihren Amtsverzicht an. Zu spät?

    Dreßing: Das kam sicher viel zu spät. Vor allem müsste die Übernahme personaler Verantwortung aus eigener Einsicht erfolgen – doch auch diese beiden Rücktrittsangebote sind verbunden mit dem Zungenschlag: Eigentlich stimmt das so nicht, was mir vorgeworfen wird. So verliert ein Rücktritt seine Bedeutung. Durch einen selbstbestimmten Rücktritt kann ein Stück Glaubwürdigkeit zurückgewonnen werden, bei einem erzwungenen nicht.

    Stefan Heße war zuletzt Erzbischof der Diözese Hamburg. Er hat dem Papst seinen Amtsverzicht angeboten.
    Stefan Heße war zuletzt Erzbischof der Diözese Hamburg. Er hat dem Papst seinen Amtsverzicht angeboten. Foto: Markus Scholz, dpa (Archivfoto)

    Warum tun sich Bischöfe in Deutschland so schwer mit dem Amtsverzicht?

    Dreßing: Das kann mit der Überhöhung des Amtes durch die Weihe zusammenhängen und dem Selbstverständnis von Priestern, dass sie Stellvertreter Jesus’ sind. Sie fühlen sich zudem berufen. Bei überhöhtem Priesterbild und Klerikalismus besteht großer Reformbedarf.

    Bei der Vorstellung der MHG-Studie saßen Sie neben dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, dem Münchner Kardinal Marx. Auch er habe weggeschaut und sich nicht um Opfer gesorgt, sagte er. Auf die Frage, ob einer der mehr als 60 deutschen Bischöfe Verantwortung in Form eines Rücktritts übernehmen werde, antwortete er schlicht: Nein. Was dachten Sie in dem Moment?

    Dreßing: Ich dachte: Warum kommt die Frage so spät? Es war ja die letzte Frage auf der Pressekonferenz. Und ich dachte: Es ist völlig erstaunlich, dass die Bischöfe nicht alles durchdacht haben. Es war doch klar, dass das Thema Rücktritt angesprochen würde. Das lag doch auf der Hand.

    Nach Kritik von Missbrauchsopfern verzichtete Kardinal Marx nun auf das Bundesverdienstkreuz. Was halten Sie davon?

    Dreßing: Die Angelegenheit zeigt, dass der Aufarbeitungsprozess immer noch in einem sehr sensiblen Stadium ist. Die Schritte, die aus Sicht der katholischen Kirche diesbezüglich bisher gemacht wurden, sind aus Sicht der Betroffenen unzureichend und deren Reaktion auf die beabsichtigte Verleihung des Bundesverdienstkreuzes für mich deshalb auch nachvollziehbar. Auch hier zeigt sich ein typisches Muster im Aufarbeitungsprozess: Eine Reaktion erfolgt erst auf Druck von außen.

    "Kirche hat die Chance auf verantwortungsbewussten Umgang vertan"

    In den vergangenen Jahren haben Sie die Kirche immer wieder für ihren Umgang mit Missbrauchsfällen kritisiert. Was ist Ihre Hauptkritik?

    Dreßing: Nach der Vorstellung der MHG-Studie wurde in der katholischen Kirche die große Chance vertan, wirklich verantwortungsvoll mit den Ergebnissen umzugehen und mit der gebotenen Dynamik einen Aufarbeitungsprozess einzuleiten. Es geht doch sehr, sehr langsam.

    Ist die katholische Kirche aber nicht deutlich weiter als andere Organisationen, möglicherweise gar Vorreiter?

    Dreßing: Es stimmt: Es gibt keine andere Institution in Deutschland, die die Missbrauchsthematik so intensiv hat beforschen lassen. Aber ich habe ein Problem damit, wenn dieses Faktum kirchlicherseits besonders betont wird und man eine Vorreiterrolle reklamiert. Nochmals: Erst massiver Druck von außen brachte die Kirche zur Einsicht.

    Eine Mehrzahl der 27 Bistümer hat sich inzwischen mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung auf unabhängige Aufarbeitungskommissionen verständigt.

    Dreßing: Ja, doch das greift zu kurz, zumal in diesen sogenannten unabhängigen Aufarbeitungskommissionen auch Bistumsvertreter sitzen. Notwendig wäre eine über den Diözesen stehende, nationale und völlig unabhängige Kommission, die die Aufarbeitung begleitet und vorantreibt. Vor allem müssten Betroffene wesentlich stärker eingebunden werden. Gerade das Erzbistum Köln mit seinem Betroffenenbeirat ist ein abschreckendes Beispiel dafür, wie Betroffene instrumentalisiert wurden. Ich kann Betroffene, die vom jeweiligen Diözesanbischof zur Mitarbeit aufgerufen werden, verstehen, wenn sie nicht Teil einer Kommission oder eines Betroffenenbeirats sein wollen.

    Sind Sie dann für eine staatlich eingesetzte Wahrheitskommission?

    Dreßing: Prinzipiell schon. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir in Deutschland ein anderes Rechtssystem haben als zum Beispiel Australien. Eine derartige Kommission könnte hierzulande nicht unbeschränkt Zugang zu Personalakten haben, sie könnte allerdings verbindliche Regelungen für alle Diözesen aufstellen, transparent machen und überwachen. Das wäre ein wichtiger Schritt. Leider ist hier auch die Politik bisher nicht aktiv genug. Sie hat nicht genügend Druck auf die Kirchen, ich spreche ausdrücklich auch von der evangelischen, und auf andere Institutionen ausgeübt, dass die Missbrauchsaufarbeitung vorangetrieben wird. Sie muss aktiver werden. Der Bundestag könnte zum Beispiel eine Enquete-Kommission einrichten, um das Thema der sexuellen Gewalt gegen Kinder im Bewusstsein der Öffentlichkeit stärker zu verankern.

    Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
    Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Foto: Fabrizio Bensch/Reuters/POOL/dpa

    Als Konsequenz aus der MHG-Studie haben sich Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken auf den „Synodalen Weg“ begeben – ein Reformprozess, der sich mit den von Ihnen benannten Risikofaktoren befasst, die Missbrauch begünstigen.

    Dreßing: Ich forsche seit mehr als 30 Jahren und keine Studie hat eine solche Wirkung gehabt wie diese. Die Daten sind praktisch einmal um die Welt gegangen, New York Times, El Pais, Le Monde, sämtliche deutsche Medien berichteten. Und der Synodale Weg hat dann genau die vier Felder besetzt, die wir als spezifische Risikofaktoren innerhalb der katholischen Kirche benannt haben. Das hat mich darin bestätigt, dass wir mit unseren wissenschaftlichen Hypothesen richtig liegen.

    Mannheimer Forscher: Eine Kirchenspaltung wegen des Reformprozesses "Synodaler Weg" ist "weit entfernt"

    (Erz-)konservative Katholiken fürchten, der Synodale Weg führe zur Kirchenspaltung.

    Dreßing: Davon sind wir gewiss noch weit entfernt. Ich fürchte eher, dass sich viele progressive Ideen nicht durchsetzen werden können.

    Um welche vier Risikofaktoren geht es?

    Dreßing: Erstens um den Missbrauch klerikaler Macht. Zweitens um den inadäquaten Umgang mit der zölibatären Lebensform.

    Die priesterliche Ehelosigkeit.

    Dreßing: Ja, aber nicht der Zölibat an sich ist schuld für Missbrauchsfälle, sondern ein nicht reif gelebter Zölibat stellt ein Risiko dar. Der Jesuit und Philosoph Godehard Brüntrup hat es mal treffend formuliert: Viele Kleriker hätten den Zölibat geschluckt, aber nicht verdaut. Das ist gefährlich, das ist toxisch.

    Der dritte Risikofaktor?

    Dreßing: Die völlig veraltete katholische Sexualmoral, die mit modernen human- und sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr übereinstimmt. Ich denke da auch an die Position zur Homosexualität.

    Der Münchner Kardinal Reinhard Marx kritisierte einmal: "In der Öffentlichkeit wird nun wahrgenommen, dass Juristen über Spitzfindigkeiten auf dem Rücken der Betroffenen streiten."
    Der Münchner Kardinal Reinhard Marx kritisierte einmal: "In der Öffentlichkeit wird nun wahrgenommen, dass Juristen über Spitzfindigkeiten auf dem Rücken der Betroffenen streiten." Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

    Nach wie vor gibt es Menschen, die in der Homosexualität Geistlicher die Ursache für Missbrauchstaten sehen.

    Dreßing: Wir haben ganz klar gesagt, dass sie kein Risikofaktor für sexuellen Missbrauch ist. Das behaupten ultrakonservative Kirchenkreise immer, wahr wird es dadurch nicht. Was stimmt ist: Homophobe Einstellungen innerhalb der Kirche sind ein Risikofaktor. Der vierte Risikofaktor ist schließlich, dass Frauen von allen Weiheämtern ausgeschlossen sind. Frauen begehen viel seltener Sexualdelikte als Männer – wenn die katholische Kirche also Frauen zu Diakoninnen oder Priesterinnen weihen würde, gäbe es statistisch gesehen ein viel geringeres Risiko für Missbrauchsfälle. Auch ein freiwilliger Zölibat würde den Wegfall eines Risikofaktors bedeuten. In Interviews mit beschuldigten Priestern, sagten diese uns, der Zölibat habe sie angezogen. Das waren meist Männer mit einem unreifen Verhältnis zur eigenen Sexualität.

    Was ist spezifisch an den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche?

    Dreßing: Tatmuster oder Tatkonstellationen sind sehr ähnlich zu Missbrauchsfällen in Familie oder anderen Institutionen. Ein signifikanter Unterschied ist, dass mehr Jungen als Mädchen missbraucht werden. Die katholische Kirche erklärt das selbst häufig damit, dass es jahrzehntelang nur männliche Messdiener gab. Diese Hypothese konnten wir so nicht bestätigen, sie erklärt unseren Befund nicht ausreichend. Es hat wahrscheinlich eher mit einer infantilen, einer kindlichen Sexualstruktur einiger Kleriker zu tun. Viele Beschuldigte haben keine reife sexuelle Identität entwickelt. Es gibt aber auch Beschuldigte mit einer pädophilen Sexualpräferenz.

    Harald Dreßing kritisiert auch die Evangelische Kirche

    Im Unterschied zur Bischofskonferenz hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erst 2020 eine ähnliche Studie wie die MHG-Studie beauftragt. Im Dezember begann ein unabhängiges Forscherkonsortium, zu dem auch Sie zählen, mit der Arbeit.

    Dreßing: Das Tempo, das die evangelische Kirche in den vergangenen Jahren bei der Missbrauchsaufarbeitung eingeschlagen hat, ist auch nicht gerade atemberaubend. Wir wollen nun unter anderem durch Analyse von Personalakten in einem Teilprojekt dieser Studie herausfinden, wie viele Fälle es gab. Ob es mehr oder weniger als in der katholischen Kirche sind, wissen wir noch nicht.

    Haben Sie eine Vermutung, warum es in der evangelischen Kirche ebenfalls viele Missbrauchsfälle gibt – obwohl diese keinen Zölibat hat und Pfarrerinnen und Pfarrer durch demokratische Strukturen kontrolliert werden?

    Dreßing: Wie viele Missbrauchsfälle es im Verantwortungsbereich der evangelischen Kirche gibt, das wissen wir noch nicht. Zum Beispiel das sehr offene evangelische Pfarrhaus könnte möglicherweise Nähe-Distanz-Probleme geschaffen haben – aber das ist bisher nur eine Hypothese.

    Was wünschten Sie sich?

    Dreßing: Wir brauchen dringend eine große nationale Dunkelfeld-Studie zu sexuellen Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen für alle Gesellschaftsbereiche – um eine Ahnung vom Ausmaß der Missbrauchsproblematik in Deutschland zu bekommen. Es müsste also jener Bereich durch repräsentative Befragungen mehrerer Zehntausend Menschen erhoben und erhellt werden, der nicht aktenkundig wurde. Und die Politik müsste so eine Studie fördern.

    Zur Person Harald Dreßing, 63, aus Ludwigshafen am Rhein leitet seit 1993 den Bereich Forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Zudem ist er außerplanmäßiger Professor an der Universität Heidelberg.

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