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Milosevic-Anklägerin Carla Del Ponte im Interview

Interview

Milosevic-Anklägerin: "Hätten Blicke töten können, wäre ich gestorben"

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    „Ich bin keine Heldin“, heißt das Buch von Carla Del Ponte.
    „Ich bin keine Heldin“, heißt das Buch von Carla Del Ponte. Foto: Martial Trezzini, dpa (Archiv)

    Frau Del Ponte, in Syrien herrscht seit über zehn Jahren Krieg. Die Konfliktparteien haben Streubomben und Giftgas eingesetzt, Tausende sind gestorben, Millionen Menschen sind auf der Flucht. Glauben Sie, dass Diktator Assad und die anderen Akteure dieses Krieges jemals für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden?

    Carla Del Ponte: Nein. Denn jedes Mal, wenn die Welt etwas gegen Assad unternehmen möchte, nutzt Russland im UN-Sicherheitsrat sein Vetorecht. Allerdings: Kriegsverbrechen verjähren nicht. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der politische Wille der Staaten eines Tages ändert und man die Verantwortlichen doch noch zur Rechenschaft ziehen wird. Deshalb habe ich immer noch eine kleine Hoffnung, dass den vielen Opfern eines Tages Gerechtigkeit widerfahren wird. Jedoch nicht in absehbarer Zeit. Es ist auf der ganzen Welt eine schlechte Zeit für Menschenrechte und die internationale Justiz. Leider, leider, leider!

    Sie wollten selbst dazu beitragen, dass die Kriegsverbrechen in Syrien nicht ungesühnt bleiben. Doch nach mehr als sechs Jahren sind Sie als Mitglied einer UN-Untersuchungskommission zurückgetreten. Warum?

    Del Ponte: Weil ich einfach genug hatte. Wir haben uns darum bemüht, dass ein internationaler Gerichtshof für die in Syrien begangenen Kriegsverbrechen gegründet wird. Doch es ist absolut nichts geschehen. Wie so oft fehlte der politische Wille der internationalen Gemeinschaft. So konnte ich nicht mehr weitermachen. Ich wollte mit meiner Mitarbeit in der Kommission der Welt und den Vereinten Nationen nicht länger ein Alibi bieten, nichts für die Aufarbeitung der in Syrien begangenen Verbrechen zu tun. Meine Kündigung sollte ein Zeichen des Protestes sein.

    Die Kriegsverbrecher werden also straffrei davonkommen?

    Del Ponte: In Deutschland mussten sich unlängst Menschen, die in Syrien Kriegsverbrechen begangen haben, vor Gericht verantworten. Das war fantastisch und sehr bemerkenswert. Nicht viele Staaten außer Deutschland nehmen diese wichtige Arbeit auf sich. Aber es handelte sich bei den Angeklagten lediglich um relative kleine Nummern. Doch wir müssten die großen Fische, die Drahtzieher vor Gericht bringen. Aber welches Land wird Präsident Assad vor Gericht stellen? Deutschland wird es nicht tun und auch kein anderes Land. Die meisten Staaten wollen mit solchen Prozessen nichts zu tun haben. Abgesehen davon, dass Assad ein ausländisches Gericht niemals akzeptieren würde, ist das auch nicht die Aufgabe einzelner Staaten. Deshalb wurden internationale Gerichtshöfe gegründet.

    Carla Del Ponte: "Worte, Worte, Worte, aber nichts Konkretes!"

    In Ihrem neuen Buch „Ich bin keine Heldin. Mein langer Kampf für Gerechtigkeit“, stellen Sie fest, dass es um die internationale Justiz derzeit nicht gut bestellt ist. Haben Sie resigniert?

    Del Ponte: Nein. Aber als Mitglied der Syrien-Kommission hat mich die Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft gegenüber der internationalen Justiz, der Gerechtigkeit und den Menschenrechten zutiefst frustriert. Ich habe damals zwei Mal pro Jahr an den Sitzungen des UN-Menschenrechtsrates teilgenommen. Das war wirklich eine große Enttäuschung. Worte, Worte, Worte, aber nichts Konkretes!

    Sie waren Chefanklägerin für die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien. Was haben Sie empfunden, als Sie das erste Mal dem serbischen Präsidenten und gesuchten Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic gegenübertraten?

    Del Ponte: Er verhielt sich stolz, überheblich, respektlos und zurückweisend und sagte mir, dass er den Gerichtshof und mich als Chefanklägerin nicht anerkenne. Hätten Blicke töten können, wäre ich gestorben, als er mich im Gerichtssaal anschaute.

    Wie war Milosevic als Angeklagter?

    Del Ponte: Er war schlau und hat sich selber verteidigt, obwohl der Gerichtshof ihm drei Verteidiger zur Seite gestellt hat. Aber er wollte sich selbst verteidigen, denn nur so konnte er sprechen. Er wollte die ganz große Bühne, um seine politischen Botschaften zu verkünden, und die ganze Welt sollte zusehen. Milosevic war gut darin, Belastungszeugen zu befragen. Er spielte sich dabei immer noch als Präsident auf, und die armen Zeugen haben dem Druck nicht immer standgehalten und ihre Aussagen teilweise zurückgezogen.

    Milosevic starb, bevor es zum Urteil kam. Was haben Sie empfunden, als Sie von seinem Tod erfuhren?

    Del Ponte: Ich war sehr wütend. Die Opfer und Hinterbliebenen würden so nicht mehr erleben, dass Milosevic für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen würde. Hinzu kam: Es ärgerte mich, dass Milosevic so einen gnädigen, so einen milden Tod geschenkt bekam. Er ist einfach eingeschlafen.

    Del Ponte über Milosevic: "Er hat es genossen, dass die ganze Welt ihm zuhören musste"

    Schnell machten Gerüchte die Runde, Milosevic habe sich umgebracht, um sich einer Verurteilung zu entziehen...

    Del Ponte: Daran habe ich nie geglaubt. Er wollte nicht sterben. Für ihn war der Prozess fantastisch, auch wenn er auf der Anklagebank saß. Er hat es genossen, dass die ganze Welt ihm zuhören musste.

    Andere Kriegsverbrecher sind zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Hat Ihnen das persönliche Genugtuung verschafft?

    Del Ponte: Ja, sicher. Es war der beste Lohn für unsere Arbeit. Manchmal knallten die Champagner-Korken. Aber vor allem habe ich mich für die Opfer gefreut. Ich musste dann oft an die Frauen von Srebrenica denken, die bei einem der schrecklichsten Massaker im Jugoslawien-Krieg ihre Söhne, Männer und Väter verloren hatten. Sie wollten mit mir sprechen. Also habe ich sie in Sarajewo getroffen und vielen von ihnen die Hand geschüttelt. Ich sah in ihren Augen das unermessliche Leid, das sie erlitten hatten. Sie sagten mir: „Wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen, dass Milosevic verurteilt wird.“ Ich fühlte mich vor diesen Frauen sehr klein, aber ich habe ihnen versprochen, dass ich mein Bestes geben werde, um ihren Wunsch zu erfüllen.

    Sie haben auch Massengräber und ungezählte Leichen gesehen. Was hat es mit Ihnen als Mensch gemacht?

    Del Ponte: Aus den persönlichen Gesprächen mit den Opfern habe ich stets die Motivation geschöpft, mich voll und ganz für sie und die Gerechtigkeit einzusetzen. Aber ich habe niemals mit den Opfern geweint. Niemals! Ich habe bei diesen Treffen nie irgendwelche Gefühle zugelassen. Ich hatte immer nur im Kopf, wie ich die Täter verhaften kann und was ich in die Anklageschrift schreibe. Ich habe in meinem Job schreckliche Dinge gesehen. Aber ich musste dabei nie gegen die Tränen oder meine Gefühle kämpfen. Ich hatte schlichtweg keine Gefühle. Das hat mir sehr geholfen, gut arbeiten und gut schlafen zu können. Meine emotionale Distanz war die Voraussetzung dafür, dass ich den Job so lange machen konnte.

    Del Ponte: "Warum soll ich mich davon beeinflussen lassen, dass man vielleicht versucht, mich zu töten?"

    Was unterscheidet einen für Kriegsverbrechen angeklagten Präsidenten auf der Anklagebank von einem gewöhnlichen Kriminellen?

    Del Ponte: Juristisch eigentlich nichts, de facto jedoch sehr viel. Gewöhnliche Kriminelle haben ein, zwei oder drei Menschen getötet, ein italienischer Mafioso hat vielleicht bis zu zehn Menschen auf dem Gewissen. Aber Milosevic trug die Verantwortung dafür, dass Tausende gefoltert und getötet wurden. Trotz dieser enormen Schuld treten Kriegsverbrecher wie Milosevic vor Gericht meist nicht wie zerknirschte Angeklagte, sondern als selbstbewusste Machtmenschen auf.

    Auf Sie ist ein Sprengstoffanschlag verübt und geschossen worden. Ist der Kampf für Gerechtigkeit es wert, sein eigenes Leben zu riskieren?

    Del Ponte: Ich habe mir immer gesagt: Sterben müssen wir alle. Irgendwann. Natürlich hoffen wir, dass es möglichst spät sein wird. Aber warum soll ich mich davon beeinflussen lassen, dass man vielleicht versucht, mich zu töten? Ich hatte nie Angst. Ich war unter Polizeischutz und habe immer darauf vertraut, dass die Bodyguards und Polizisten ihren Job gut machen. Nur ein einziges Mal, in Belgrad, hatte ich ein komisches Gefühl. Wir waren auf einer gesperrten Autobahn mit einem Konvoi auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt. Es gab drei identische Wagen. Potenzielle Attentäter sollten nicht wissen, in welchem Wagen ich saß. Aber was mich gestört hat, war, dass am Ende des Konvois ein Krankenwagen fuhr. Darin hätte ich sofort behandelt werden können, wenn auf mich geschossen worden wäre. Das hat mir die Bedrohungslage konkret vor Augen geführt. Zum Glück haben wir den Krankenwagen nicht gebraucht.

    Zur Person: Die Schweizerin Carla Del Ponte, 74, war von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Kriegsverbrechen in Jugoslawien sowie für den Völkermord in Ruanda. Ihr Buch heißt: „Ich bin keine Heldin! Mein langer Kampf für Gerechtigkeit“.

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