Der Militärputsch in der Türkei war noch voll im Gange, in Istanbul und Ankara herrschte Chaos, an vielen Orten dauerten die Gefechte an - da standen für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die Schuldigen schon fest: Anhänger des einflussreichen islamischen Predigers Fethullah Gülen, der in den USA lebt. "Sie werden einen hohen Preis für diesen Verrat zahlen", kündigte Erdogan am Istanbuler Atatürk-Flughafen bereits in der Nacht zum Samstag an. Und er ließ seinen Worten Taten folgen: Allein bis Sonntag wurden 6000 Menschen festgenommen, vor allem Soldaten, Offiziere und Generäle sowie Richter und Staatsanwälte.
Experten: Erdogan wird den Putsch für sich nutzen
Türkei-Experten waren sich am Wochenende einig, dass Erdogan, dem schon seit längerem autokratische und sogar diktatorische Tendenzen vorgeworfen werden, den Putsch zum Ausbau seiner Macht nutzen wird. Aykan Erdemir von der Foundation for Defense of Democracies in Washington geht davon aus, dass Erdogan eine solche Gelegenheit zur Konsolidierung seiner "Ein-Mann-Herrschaft" nicht verstreichen lassen werde. Und auch Sinan Ulgen, Direktor des Think Tanks Edam, sagt voraus, dass der Staatschef den Putsch für "seine persönlichen Ambitionen zum Aufbau eines Präsidialsystems" nutzen werde.
Schon seit geraumer Zeit geht die islamisch-konservative Regierung unter Erdogan mit aller Härte gegen ihre Widersacher vor - gegen Journalisten, Anwälte oder Oppositionspolitiker genauso wie gegen Kurden. Kritik und Proteste, auch aus dem Ausland, prallten bisher an Erdogan ab. Entsprechend besorgt fielen die Reaktionen in der EU und in den USA am Wochenende aus.
Der gescheiterte Putsch sei kein "Blankoscheck" für "Säuberungsaktionen", warnte Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault. Etwas vorsichtiger mahnte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die "Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit" bei den zu erwartenden Prozessen gegen die Putschisten an. Schon wieder etwas deutlicher wandte sich Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) gegen "Rache und Willkür".
Erdogan, der ab 2003 in der Türkei als Ministerpräsident an der Regierungsspitze stand und seit August 2014 der erste direkt gewählte Präsident des Landes ist, ließ sich von all den Mahnungen nicht beeindrucken. Seine Worte vom Sonntag lassen nichts gutes Ahnen: "Wir werden das Virus aus allen staatlichen Institutionen vertreiben", sagte er offensichtlich mit Blick auf die Gülen-Anhänger. Regierungsfeindliche Strukturen hätten sich "wie ein Krebsgeschwür im Staat ausgebreitet".
Der Präsident, dem bisher im Parlament die nötige Mehrheit für sein Vorhaben eines Präsidialsystems fehlte, kann sich der Unterstützung seiner Anhänger sicherer denn je sein. In vielen Städten der Türkei gingen am Wochenende zehntausende Menschen auf die Straßen und feierten das Scheitern des Putsches. Männer, Frauen und Kinder trugen Stirnbänder mit dem Namen Erdogans. Mit türkischen Fahnen in den Händen riefen sie "Allahu Akbar" (Gott ist groß).
Der 55-jährige Teilnehmer Hayrullah Kul hoffte in Istanbul, dass die Bevölkerung nun geschlossener sei als vorher. Schließlich habe auch die gesamte Opposition, darunter die Kurdenpartei HDP, den Putsch verurteilt: "Sie haben die türkische Gemeinschaft zusammengeführt." Und die 27-jährige Inci stellte klar, dass die Zeit der Militärputsche vorbei sei.
Erdogan wird seinen Kurs noch einmal verschärfen
Die mangelnde Unterstützung in der Bevölkerung und der Opposition gilt als ein Grund für das Scheitern des Putsches, der nur von einem Teil des Militärs getragen wurde. Türkei-Experten wie Udo Steinbach nannten den Putsch zudem "enorm dilettantisch". Anhänger der Gülen-Bewegung, die in der Türkei enorm einflussreich ist, könnten es "nicht gewesen sein", sagte er "Focus Online". Gülen, der seit Jahren mit Erdogan verfeindet ist, hält sogar eine Inszenierung des Putsches durch Erdogan selbst für möglich.
Das Militär in der Türkei
Das türkische Militär mit seinen nach eigenen Angaben knapp 640 000 Mitgliedern gilt als eines der größten der Welt.
In der Nato stellen die Türken nach den USA die zweitgrößte Streitmacht. Im Innern des Landes sehen sich die Soldaten als Hüter der türkischen Verfassung.
Allein seit 1960 putschte das Militär drei Mal, weil es etwa das laizistische Prinzip der Trennung von Religion und Staat gefährdet sah.
Bis 2003 verkörperte auch der Nationale Sicherheitsrat den Machtanspruch der Streitkräfte. In Sicherheitsfragen war das Gremium seit 1982 der Regierung gegenüber weisungsbefugt.
Seit der Verfassungsreform von 2003 gehören dem Rat aber mehrheitlich Zivilisten an. Er hat nur noch beratende Funktion. (dpa)
Wer auch immer genau hinter dem Putschversuch steht, eines scheint klar: Erdogan wird seine Macht ausbauen - und seinen Kurs noch einmal verschärfen. Oder wie es sein Justizminister Bekir Bozdag sagt: "Die große Säuberungsaktion geht weiter." afp/AZ