Das Armutsrisiko in Deutschland ist so hoch wie seit vielen Jahren nicht mehr. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes auf Basis des Mikrozensus waren im vergangenen Jahr 15,9 Prozent der Bürger von Armut bedroht, 2018 waren es noch 15,5 Prozent.
"Das ist der höchste Wert seit der Wiedervereinigung", ist sich der Armutsforscher Christoph Butterwegge sicher. Die Statistik der Wiesbadener Behörde reicht in dieser Form nur bis 2005 zurück. Doch auch danach handelt es sich um einen Spitzenwert. Die Entwicklung dürfte sich in der Corona-Krise noch verschärft haben. "Ich finde das besorgniserregend und alarmierend. Es gibt eine Polarisierung, die Reichen werden reicher, die Armen werden zahlreicher", sagte Butterwege der Deutschen Presse-Agentur.
Die Schwelle für die Armutsgefährdung lag dem Statistischen Bundesamt zufolge bei 1074 Euro bei einem Einpersonenhaushalt, das sind 60 Prozent eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens. Wer weniger Geld zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet. Am größten ist dieser Anteil in Bremen, dort war der Statistik zufolge fast ein Viertel der Bevölkerung (24,9 Prozent) von Armut bedroht. Unter Kindern und Jugendlichen war es in dem hoch verschuldeten Land sogar mehr als jeder Vierte. Die wenigsten Menschen waren in Bayern (11,9) und Baden-Württemberg (12,3) betroffen.
In den vergangenen zehn Jahren ging das Armutsrisiko den Statistikern zufolge in den östlichen Bundesländern (ohne Berlin) zurück, in den westlichen stieg es. Den bundesweit stärksten Rückgang verzeichnete zwischen 2009 und 2019 Mecklenburg-Vorpommern - von 23,1 auf 19,4 Prozent. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Armutsgefährdung in Bremen von 20,1 auf 24,9 und in Hessen von 12,4 auf 16,1 Prozent.
Am stärksten betroffen waren in Deutschland im vergangenen Jahr Erwerbslose (57,9), Alleinerziehende (42,7), Migranten (35,2) oder auch Familien mit drei oder mehr Kindern (30,9). Wie sich die Corona-Krise auf das Armutsrisiko auswirkt, ist noch unklar. Die Bundesagentur für Arbeit hatte für Juli 2,91 Millionen Menschen ohne Job gemeldet, 635.000 Menschen mehr als ein Jahr zuvor. Im Mai waren in Deutschland 6,7 Millionen Menschen in Kurzarbeit.
"Wer schon vorher kurz über der Armutsrisikoschwelle lag, rutscht mit Kurzarbeit oder Jobverlust runter", sagte Butterwegge. Hier handele es sich um "relativ" arme Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens haben. "Absolut" arm seien die, die nicht einmal die Grundbedürfnisse befriedigen könnten, wie Obdach- oder Wohnungslose. Und die würden jetzt auch im Zuge der Pandemie bei den Hilfsfonds der Bundesregierung fast leer ausgehen.
"Denen, den es am schlechtesten geht, die bekommen nichts von der Regierung." Gelder würden nach dem Leistungsprinzip und nicht nach Bedarf verteilt, kritisierte Butterwegge. Er forderte statt der Abschaffung des Solidaritätszuschlags eine Umwidmung in einen Corona-Soli, um die Kosten der Krise auch unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit mit zu finanzieren.
"Die Zahlen zeigen ganz deutlich, dass sich die Armut bereits vor der Corona-Krise verschärft hat, und zwar zu einer Zeit, als die Wirtschaft boomte und die Arbeitslosenzahlen niedrig waren", erklärte die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele. Es seien noch immer zu viele Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt und die Löhne zu niedrig.
"Die Armut in diesem Land hat im langfristigen Trend exorbitant zugenommen", kritisierte der Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Werner Hesse, auf Anfrage. Die Zahlen würden die Dringlichkeit belegen, bei den Ärmsten die Einkommen zu erhöhen. So müssten die Hartz-IV-Regelsätze endlich auf ein bedarfsgerechtes Niveau angehoben werden. "Millionen armer Menschen leben in existenzieller Not und sind von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen - und es werden immer mehr."
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