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Migration: Zahlen, Länder, Lösungen: Erwartet Europa die nächste Fluchtbewegung?

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Zahlen, Länder, Lösungen: Erwartet Europa die nächste Fluchtbewegung?

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    Ein Mann und kleine Kinder stehen in einem behelfsmäßigen Lager in der Provinz Balkh, Afghanistan. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan ist die Zahl der Binnenflüchtlinge deutlich gestiegen.
    Ein Mann und kleine Kinder stehen in einem behelfsmäßigen Lager in der Provinz Balkh, Afghanistan. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan ist die Zahl der Binnenflüchtlinge deutlich gestiegen. Foto: Kawa Basharat, dpa

    Schlauchboote vor der libyschen Küste, Flüchtlingstrecks aus dem Iran in die Türkei: Krisen und Konflikte von Afghanistan bis SyrienSyrien schüren in Europa die Angst vor der nächsten großen Fluchtbewegung aus Zentralasien, Nahost und Afrika. Panik und Populismus seien aber die falsche Antwort, sagen Experten. Ein Überblick über die wichtigsten Zahlen, Krisenländer und Lösungsvorschläge.

    So ist die Lage der Flüchtlinge weltweit

    Weltweit sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR etwa 82 Millionen Menschen auf der Flucht, 35 Millionen davon sind Kinder. Jedes Jahr werden rund 300.000 Kinder als Flüchtlinge geboren. Allein in Europa haben Schutzsuchende aus aller Welt seit 2015 etwa 5,2 Millionen Asylanträge gestellt.

    Die Furcht vor einer neuen Krise wie 2015 geht um, aber derzeit kann davon keine Rede sein. Fast 50 der weltweit 82 Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, sind Flüchtlinge im eigenen Land - sie sind also nicht auf dem Weg in die EU. Von 2016 bis 2020 registrierte das UNHCR rund 840.000 Flüchtlinge, die in EU-Mittelmeerländern ankamen: Diese Gesamtzahl für fünf Jahre war niedriger als die eine Million Menschen, die 2015 gezählt wurden. Auch in diesem Jahr kommen bisher „extrem wenige irreguläre Migranten“ in der

    Migranten an der türkisch-griechischen Grenze.
    Migranten an der türkisch-griechischen Grenze. Foto: Mohssen Assanimoghaddam/dpa

    Mehr als zwei Drittel der Flüchtlinge, die außerhalb ihrer Länder Schutz suchen, kommen aus einer Handvoll Ländern. Mit 6,7 Millionen Vertriebenen im Ausland führt Syrien diese traurige Liste an. Ebenso tragen nur wenige Länder die Hauptlast bei der Versorgung der Flüchtlinge. Allein die Türkei kümmert sich um 3,6 Millionen Syrer und mehrere hunderttausend Afghanen. Kolumbien, Pakistan und Uganda haben jeweils 1,4 bis 1,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Auch Deutschland gehört mit 1,2 Millionen Flüchtlingen zu der Gruppe der wichtigsten Zufluchtsstaaten.

    Aus diesen Krisenländern machen sich Flüchtlinge auf den Weg

    Der seit zehn Jahren anhaltende Krieg in Syrienhat 12 Millionen Menschen - also jeden zweiten Bürger des Nahost-Landes - heimatlos gemacht. Fast sieben Millionen von ihnen sind ins Ausland geflohen. Die benachbarte Türkei befürchtet neue Kämpfe um die letzte verbliebene Rebellenhochburg Idlib, wo rund drei Millionen Menschen leben. Die Regierung in Ankara hat mehrmals erklärt, dass ihr Land nicht noch mehr Syrer aufnehmen könne. Die türkische Opposition fordert, die syrischen Flüchtlinge sollten nach Hause geschickt werden.

    Syriens Staatschef Baschar al-Assad versucht, die Angst der Türken und der Europäer vor einer neuen Massenflucht auszunutzen. Er will erreichen, dass der Westen den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes bezahlt, und stellt dafür eine Rückkehr der Flüchtlinge in Aussicht.

    Auch der Konflikt in Afghanistan zwingt tausende Menschen zur Flucht ins Ausland. Der Abzug der westlichen Truppen hat den radikal-islamischen Taliban einen neuen Vormarsch ermöglicht. Einige fliehen schon jetzt in den benachbarten Iran und von dort aus weiter in die Türkei, wo derzeit jeden Tag einige hundert Afghanen ankommen. Magdalena Kirchner, Afghanistan-Direktorin der Friedrich-Ebert-Stiftung, rechnet mit einer Zunahme der Flüchtlingszahlen. Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit ließen vielen Afghanen keine andere Wahl, sagte sie unserer Zeitung: „Der Druck, das Land zu verlassen, ist schon sehr groß.“ Wer es sich leisten könne, besorge sich für sich und seine Familie ein Visum für die Türkei. Andere suchen in Nachbarländern Schutz.

    Der Migrationsexperte Murat Erdogan von der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul schätzt, dass die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in der Türkei dennoch von derzeit 500.000 auf eine Million steigen könnte. Erdogan erwartet, dass etwa zehn Prozent von ihnen versuchen werden, von der Türkei in die EU zu kommen. Kirchner weist aber darauf hin, dass die Fähigkeit von Ländern wie der Türkei, viele Flüchtlinge zu absorbieren, ihre Grenzen erreicht habe. Die Regierungen dieser Staaten geraten unter innenpolitischen Druck, weil ihrer Bürger befürchten, dass ihre Länder zum „Parkplatz für die Elenden dieser Welt“ werden, wie Kirchner sagt.

    In Libyenbemühen sich UNO und Europa um eine Stabilisierung des Staates nach zehn Jahren Chaos und Gewalt, die das nordafrikanische Land zu einem wichtigen Zwischenstopp für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa gemacht haben. Im Dezember soll eine Regierung für das ganze Land gewählt werden, doch das Misstrauen zwischen den Politikern, Parteien und Milizen in verfeindeten Machtblöcken im Osten und Westen des Landes ist groß. Von Libyen aus starten nicht nur viele Flüchtlinge aus Afrika, sondern auch Schutzsuchende aus Nahost und Asien nach Italien. Viele bezahlen die Reise mit ihrem Leben: Auf der Seeroute durch das zentrale Mittelmeer nach

    Vom libyschen Nachbarn Tunesienaus legen ebenfalls immer mehr Flüchtlingsboote nach Italien ab. Nach Jahren der relativen Stabilität ist die einzige Demokratie, die aus den Unruhen des Arabischen Frühlings hervorging, in eine schwere wirtschaftliche und politische Krise gerutscht. Präsident Kais Saied hat die Regierung entlassen, das Parlament aufgelöst und hochrangige Beamte entlassen. Seine Gegner werfen ihm einen Staatstreich von oben vor. Immer mehr junge und gut ausgebildete Tunesier suchen ihr Glück in Europa; seit Jahresbeginn kamen fast 3000 von ihnen in Booten in Italien an.

    Auch in anderen Ländern des Nahen Ostens verlieren viele Menschen die Hoffnung, in ihrer Heimat ein besseres Leben für sich und ihre Kinder aufbauen zu können. Im Irakprotestieren immer wieder tausende Menschen gegen ihre schlechten Lebensbedingungen, die sich trotz des Ölreichtums des Landes nicht verbessern. Ausfälle der Strom- und Wasserversorgung, Korruption, Arbeitslosigkeit und Gewalt gehören für viele Iraker zum Alltag. Wer kann, sucht im Ausland neue Chancen: Die Iraker sind eine der größten Gruppe von ausländischen Immobilienkäufern in der Türkei. In Deutschland stellen sie nach Syrern und Afghanen die drittstärkste nationale Gruppe von Asylbewerbern.

    Im Irantreiben die repressive Politik der Islamischen Republik, eine schwere Wirtschaftskrise und wachsende ökologische Probleme immer mehr Menschen aus dem Land. Mehr als 40 Jahre nach der Revolution von 1979 hat das Mullah-Regime, das damals als Beschützerin der kleinen Leute auftrat, das Vertrauen von Millionen Bürgern verloren. Proteste werden von Polizei und Revolutionsgarde niedergeschlagen - allein bei Demonstrationen gegen eine Benzinpreiserhöhung 2019 wurden nach Angaben von Amnesty International mehr als 300 Menschen erschossen. Dennoch gibt es immer wieder Unruhen, wie zuletzt wegen eines akuten Trinkwassermangels in mehreren Landesteilen. In Deutschland waren die Iraner mit rund 2600 Anträgen im vergangenen Jahr unter den zehn größten Gruppen von Asylbewerbern.

    Noch mehr Asylanträge als die Iraner stellen in Deutschland die Schutzsuchenden aus der Türkei. Mehr als 5000 Anträge von Türken registrierten die deutschen Behörden 2020. Gründe dafür sind der wachsende Druck der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Andersdenkende und die steigende Arbeitslosigkeit. Viele prominente Regierungskritiker wie der Journalist Can Dündar sind in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflohen.

    Die Zukunft der Flüchtlinge ist ungewiss

    Entwicklungen wie in Afghanistan oder Libyen müssten ernstgenommen werden, sagt Afghanistan-Expertin Kirchner. Nach 2015 habe sich die europäische Politik vorgenommen, Fluchtursachen zu bekämpfen, sei damit aber gescheitert. „Da ist nicht viel passiert.“

    ESI-Chef Knaus plädiert für eine geregelte Aufnahme von Flüchtlingen durch westliche Industrienationen - so könnten rund 300.000 Menschen jedes Jahr eine neue Heimat finden, ohne sich Schleuserbanden und löchrigen Schlauchbooten anvertrauen zu müssen. Allein die USA wollen im nächsten Jahr 125.000 Flüchtlinge auf diese Weise aufnehmen.

    Deutschland könne in Europa eine Vorbildfunktion übernehmen und etwa 40.000 Menschen pro Jahr aufnehmen, sagte Knaus unserer Redaktion. Wenn die Bundesrepublik vorangehe, würden weitere Staaten folgen. „Dann könnte ein Schwung mit realistischen und mehrheitsfähigen Zahlen von aufgenommenen Flüchtlingen entstehen.“ Vorbild wäre laut Knaus die Aufnahme vietnamesischer Bootsflüchtlinge durch verschiedene Länder Ende der 1970er Jahre. „Hysterie“ trotz der derzeit relativ niedrigen Flüchtlingszahlen helfe dagegen nicht weiter.

    Auch Kirchner hält die geregelte Wiederansiedlung von Flüchtlingen grundsätzlich für einen guten Weg. Es sei an der Zeit, sich wieder intensiver mit dem Flüchtlingsproblem zu beschäftigen: „Man kann es ja nicht einfach wegwünschen.“

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