In der Ferne heulen Sirenen. Dann übertönen Hubschrauber, die über die Dächer knattern, alle anderen Geräusche. Die Einwohner des 1700-Seelen-Ortes Kuznica im Nordosten Polens wissen am Montagmorgen zunächst gar nicht, wie ihnen geschieht. Einige laufen auf die Straße und gucken. Es ist aber nichts zu sehen. Klar ist nur, dass der Aufruhr aus Richtung der belarussischen Grenze kommt.
Mal wieder. Denn dort herrscht seit September Ausnahmezustand, weil Diktator Alexander Lukaschenko Geflüchtete aus Krisengebieten Richtung EU schickt. Am Ortsrand von Kuznica haben polnische Soldaten deshalb Natodrahtzäune errichtet. Doch heute ist etwas anders. Was genau, das zeigen später Luftaufnahmen: Hunderte Migranten unternehmen den Versuch, gemeinsam die Grenze zu überqueren. Von einem „organisierten Angriff“ ist in polnischen Medien die Rede, die sofort ihre Liveticker starten. Schließlich drängen Polizisten die Migranten zurück, unter denen auch Frauen und Kinder sind.
Die Lage in der Grenzregion ist äußerst unübersichtlich
Die Lage in der Grenzregion bleibt am Montag allerdings unübersichtlich, nicht nur für die Bewohner von Kuznica, die ihre Eindrücke telefonisch weitergeben. Das hat auch mit dem Ausnahmezustand zu tun. Weder Helfer und Helferinnen noch Journalisten und Journalistinnen dürfen das Gebiet betreten. Sie sind auf die Augenzeugenberichte und Behörden angewiesen. Nicht einmal die EU-Grenzschützer von Frontex haben Zugang. Deshalb ist auch nicht klar, ob belarussische Soldaten die Migranten „auf die Grenze zugetrieben haben“, wie polnische Behörden behaupten. Oder ob sich die Geflüchteten von selbst auf den Weg gemacht haben und nur von Sicherheitskräften begleitet werden.
Handyvideos, meist von Migranten selbst aufgenommen und ins Internet gestellt, zeigen große Menschengruppen auf einer Autobahn im Westen von Belarus. Sie wollen offenbar auf der Straße Richtung Grenze gehen, werden aber von Polizisten in die Wälder gedrängt. Das Regime in Minsk bestätigt den „Marsch der Geflüchteten“, die angeblich nach Deutschland weiterreisen wollen. Zugleich warnen Lukaschenkos Behörden vor „polnischen Provokationen“. Der Wahrheit am nächsten kommen womöglich Berichte des oppositionellen belarussischen Nachrichtenkanals Nexta. Dort teilen Augenzeugen mit, dass es sich bei den Migranten um irakische Kurden handele, die „ihren Marsch selbst organisiert haben“. Hintergrund sei die immer schwierigere Lage der Geflüchteten in Minsk. Dorthin lockt das Lukaschenko-Regime zwar seit Monaten Menschen aus Krisengebieten. Doch seit Polen die rund 400 Kilometer lange Grenze von Tausenden Soldaten überwachen lässt und illegale Einreisen mit illegalen Rückführungen beantwortet, verschärft sich die humanitäre Lage in Belarus.
Schutzsuchende kampieren in Parks und Einkaufszentren
Zuletzt kampierten immer mehr Schutzsuchende aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan in den Parks, Einkaufszentren und U-Bahnen von Minsk. Polizeieinsätze häufen sich. Regimekritiker berichten, Lukaschenko wolle Minsk „migrantenfrei“ machen. Als Reaktion darauf suchen die Geflüchteten ihre Rettung nun möglicherweise in gemeinsamen Märschen zur Grenze.
Wie dramatisch die Lage in den kommenden Tagen noch werden könnte, zeigen unterdessen die Reaktionen in Warschau, aber auch in Brüssel. In Polen kommt am Montag nur wenige Stunden nach den ersten Eilmeldungen aus Kuznica ein Krisenstab unter Leitung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zusammen. Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak teilt mit, dass er die sogenannte Territorialarmee (WOT) in Alarmbereitschaft versetzt hat. Dabei handelt es sich um Freiwilligenverbände, die der Armeeführung unterstellt sind. Eine von der WOT bei Twitter veröffentlichte Grafik zeigt, dass die 29000 Freiwilligen je nach Wohnort innerhalb von sechs bis 24 Stunden im Einsatz sein könnten. Man sei „bereit, die polnische Grenze zu verteidigen“.
In einem Aufruf an die eigenen Leute hießt es: „Soldaten! Überprüft eure Ausrüstung, informiert Arbeitgeber und Angehörige.“ Das klingt nach Kampfeinsatz, und tatsächlich spricht nicht nur die polnische Regierung seit Wochen von einem „hybriden Krieg“. Am Montag teilt das Nato-Hauptquartier in Brüssel mit: „Die Instrumentalisierung von Migranten durch das Lukaschenko-Regime als hybride Taktik ist inakzeptabel. Die Eskalation an der polnisch-belarussischen Grenze beunruhigt uns.“ Als hybride Kriegsführung werden Angriffe mit nicht militärischen Mitteln bezeichnet, etwa Cyber-Attacken, das Schüren von Unruhen oder Sabotage.
In der aktuell so zugespitzten Lage gehen humanitäre Fragen fast komplett unter. Dabei harren in der sumpfigen, von Urwäldern geprägten Grenzregion schon seit Wochen ungezählte Menschen aus, die zu verhungern und bei einsetzenden Nachtfrösten zu erfrieren drohen, wenn nicht doch noch Hilfe kommt. Den Blick für die eklatante Not behalten immerhin vier Trägerinnen des Literatur-Nobelpreises. Die Belarussin Swetlana Alexijewitsch, die Polin Olga Tokarczuk, Elfriede Jelinek aus Österreich und die Rumäniendeutsche Herta Müller schreiben „angesichts der menschlichen Katastrophe“ in einem offenen Brief an die EU-Institutionen: „Schließen wir nicht die Augen vor dieser Tragödie!“