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Wie Russland im Niger die europäische Asylpolitik torpediert

Migration

Wie Russland im Niger die europäische Asylpolitik torpediert

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    Migranten in Agadez, Niger, brechen am 27. Februar durch die Wüste nach Libyen auf.
    Migranten in Agadez, Niger, brechen am 27. Februar durch die Wüste nach Libyen auf. Foto: Chehou Azizou

    Am meisten hat er die Anrufe aus Italien vermisst. Das Lebenszeichen seiner Kunden nach der Fahrt von Nigers Wüstenstadt Agadez durch die Sahara und – noch gefährlicher – der Überquerung des Mittelmeeres. Souleymane Sanda, 46, machte das stolz. „Die Leute haben mir vertraut“, sagt der Schlepper, „jeder Anruf bedeutete, dass meine Kontakte auf die Sicherheit achten.“ Und neue Einkünfte. Die um Ersparnisse und Todesangst erleichterten Migranten versprachen, seine Nummer an Freunde und Verwandte in der Heimat weiterzugeben.

    Jetzt, nach sieben langen Jahren, kommen die Anrufe wieder. Vor allem aus Benin und Gambia. Nigers Militärjunta hat vor einigen Monaten zum Entsetzen der Europäischen Union (EU) ein Gesetz aufgehoben, das die Beförderung von Migranten in Richtung der Grenzen zu Libyen oder Algerien unter Strafe gestellt hatte. Das Bollwerk, das der Westen gegen afrikanische Migranten errichtet hat, ist damit eingestürzt – zurück bleibt auf der einen Seite die Angst, dass die Zahl der unerwünschten Neuankömmlinge in Europa noch weiter steigen könnte, auf der anderen Seite die Hoffnung, mit der Not der anderen wieder gutes Geld zu verdienen. Sanda gehört zur zweiten Gruppe. In Agadez hat er extra ein Haus für die Unterbringung von Migranten angemietet. „Ghetto“ nennt er es, weil seine Gäste dort regelrecht zusammengepfercht werden. Seine Telefonnummer zirkuliert erneut in Westafrika. Und Sanda antwortet, kassiert neben der Miete Kommission von den Fahrern. Er hat vier Frauen und neun Kinder zu ernähren.

    Seit einem Putsch regiert im Niger das Militär

    Das Beispiel Niger veranschaulicht deutlich, wie schwierig und fragil europäische Migrationspolitik ist. „Auf Druck der EU hatte das Sahelland die Route 2015 unter dem Eindruck der Flüchtlingswelle in Europa offiziell geschlossen und dafür im Gegenzug Milliardenhilfen bekommen“, sagt Ulf Laessing, Leiter des Regionalbüros Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung. Doch inzwischen hat sich nicht nur die politische Gemengelage in Niger selbst verändert, sondern auch die Kräfteverhältnisse in der gesamten Welt. In Niger regiert nach einem Putsch eine Militärjunta, die sich lieber an Russland orientiert als an den ehemaligen Kolonialherren aus Europa. Nach Frankreich stehen nun auch die mit über 1000 Soldaten und Drohnen im Niger vertretenen USA vor dem Rauswurf aus dem Land, nachdem man sich gegenüber der Junta über die Ankunft russischer Militärausbildern echauffiert hatte. Gespräche auf offizieller politischer Ebene gibt es kaum noch. „Deutschland hat aktuell noch nicht einmal einen Botschafter im Niger“, sagt Laessing. Die Entwicklungszusammenarbeit liegt auf Eis. Das Vakuum füllen jene, die es mit der guten Regierungsführung nicht ganz so genau nehmen. 

    Die Stadt Agadez im Norden Nigers ist ein Dreh- und Angelpunkt für Migration aus Sub-Sahara Afrika Richtung Mittelmeer. An einem Mittwochmorgen erklärt sich Souleymane Sanda, ein drahtiger Tuareg, im Büro eines Mittelmannes zum Gespräch per Videoschalte bereit. Es ist ein ruhiger Tag, wie eigentlich jeder Mittwoch. Denn die wöchentlichen Konvoys der über 100 Geländewagen und Kleinlaster, auf denen sich jeweils bis zu 40 Armutsmigranten drängen, brechen immer dienstags nach Libyen auf, das „Ghetto“ leer. Sanda hat also Zeit, will über sein Leid der vergangenen Jahre sprechen. Und sich vor allem nicht für sein Handwerk schämen, nur weil es der EU nicht passt. Seit Jahrhunderten würden die Tuareg Handel und Transportdienste in der Sahara betreiben, sagt er. Das sei kein Verbrechen. 

    Niger hat den Migrationspakt aufgekündigt

    Insgesamt über eine Milliarde Euro hatte die EU zur Umsetzung des Anti-Schlepper-Gesetzes mit dem nüchternen Namen „2015-36“ in den Niger überwiesen, weil es das letzte einigermaßen demokratische Transitland für die Migranten vor dem zerfallenen Libyen war. Sieben Jahre lang funktionierte der rechtlich fragwürdige, aber realpolitische Deal, der gezielt die Interessen auch der Europäer in den Blick nahm. Die westlich orientierte Regierung in der Hauptstadt schickte verlässlich Patrouillen in den Norden ihres riesigen Landes, verhaftete Hunderte Schlepper, beschlagnahmte ihre Geländewagen. Das stoppte die Durchreise Hunderttausender Migranten, aber auch viele Saisonarbeiter aus dem Niger selbst, die traditionell für einige Monate in Libyen arbeiten und dann meist zurückkommen. Auch deshalb war die Wut im Norden des Landes groß auf die EU

    In Agadez, knapp 1000 Kilometer von der Hauptstadt Niamey entfernt, galt es zudem als leeres Versprechen, dass mit dem Geld aus Europa mehr als nur die Eindämmung der Migration finanziert wird. Von neuen Jobs war bei den vielen Staatsbesuchen aus Europa die Rede – besonders für die Schlepper. Gar von einem Marshallplan sprach die deutsche Regierung in Erinnerung an das eigene Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre. Als Beispiel für gelungenes Erwartungsmanagement wird die Zusammenarbeit nicht in die Geschichte eingehen. Europas Millionen finanzierten die Patrouillen und reduzierten die Zahl der durchreisenden Migranten ab dem Jahr 2016 zunächst tatsächlich erheblich. Doch der größtenteils aus der Sahara bestehende Niger, dessen Geografie die weltweit schlechtesten Faktoren für Wirtschaftswunder bietet, rangierte weiter unter den zehn ärmsten Ländern der Welt. 

    Flüchtlinge aus Afrika: Schlepper stand vor dem finanziellen Aus

    Und Sanda stand vor dem Nichts. Vorher war er ein angesehener Mann in Agadez, brachte monatlich umgerechnet über 600 Euro nach Hause. Das machte ihn nicht zu einem der großen Fische im Teich der Schlepper, aber doch zu einem mit einem Vielfachen des Durchschnittseinkommens. „Das betraf ja nicht nur mich“, sagt Sanda, „sondern auch die Leute, die an meinem Ghetto mitverdienten. Die Verkäufer von Wasser, Essen oder Handyguthaben, die Motorradtaxis, wir alle standen auf der Straße und wussten nicht, wovon wir leben können.“

    Monatelang bewarb er sich für von der EU finanzierte Programme, wollte eine Motorrad-Werkstatt eröffnen. Viermal vergeblich, ohne nähere Begründung für die Absage. Dann gab er auf, verkaufte Benzin auf dem Schwarzmarkt, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Mächtigere Schlepper versuchten den Ausstieg erst gar nicht, sie machten trotz der drohenden Verhaftungen und Beschlagnahmungen weiter. Immer weiter hielten sie sich wegen der Patrouillen von den gängigen Routen und Wasserlöchern fern, immer gefährlicher wurde die Reise. 

    Die Zahl der Reisenden durch den Niger in Richtung Libyen war zwar nach den hohen Werten von 2016, als laut Messungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) knapp 300.000 in Richtung Libyen zogen, zunächst deutlich gesunken: auf unter 50.000 jährlich. Allein seit Anfang Januar dieses Jahres sind mehr als 160.000 Migranten Richtung Norden gezogen gekommen, berichteten UN-Mitarbeiter, davon etwa 40.000 nach Algerien und der Rest nach Libyen. Neben Saisonarbeitern aus dem Niger sind Nigerianer die größte Gruppe mit zwölf Prozent, die es in der Regel nach Europa zieht. Die Chance, dass ihr Antrag auf Asyl anerkannt wird, ist schlecht. In Deutschland allein gibt es etwa 14.000 ausreisepflichtige Nigerianerinnen und Nigerianer. Viele können aber nicht abgeschoben werden, weil ihr Heimatland sie nicht zurücknimmt. Aber auch die Zahl der flüchtenden Menschen aus dem umkämpften Sudan nimmt zu, andere afrikanische Herkunftsstaaten sind Sierra Leone, Elfenbeinküste oder Togo. 

    Asylpolitik in Europa: Russland mischt im Niger mit

    Das Migrationsgeschäft der Sahara ist jedenfalls wiederbelebt. Der Bürgermeister von Agadez frohlockte gegenüber Al Jazeera, dass sich wieder 98 Prozent der Migrantenbeförderer registrieren würden, was pro Fahrzeug umgerechnet rund 23 Euro kostet. Dafür bekommen die Fahrer Geleitschutz durch die Armee. Die Behörden erklären die Eskorten mit der Sicherheit. Ganz nebenbei aber verdienen auch die Soldaten wieder an den Migranten, von denen sie kleinere Beträge kassieren.

    Freuen dürfte die Entwicklung auch die russische Führung. Die konnte schon in den vergangenen Jahren beobachten, wie sehr Europa unter den hohen Migrationszahlen ins Wanken gerät. Dass bei der Europawahl im Mai die rechten Parteien massiv an Zuspruch gewonnen haben, dürfte eine direkte Folge der schwierigen Migrationspolitik sein. Ob Wladimir Putin im Geschäft mit den Flüchtlingen selbst seine Finger im Spiel hat, ist schwer zu sagen. „Aber wundern würde es mich nicht“, sagt der Afrika-Experte Laessing. „Russland setzt Migration als Waffe ein, ich wüsste keinen Grund, warum sie das nicht auch im Niger versuchen sollten.“ Auch deshalb werde sich Deutschland auf Dauer kaum der Kommunikation mit der Militärregierung verschließen können. „Wir müssen realistisch sein und sehen, dass das Projekt ,liberale Demokratie‘ in Afrika derzeit nicht so beliebt ist“, sagt Laessing. 

    An alte Einkünfte kann Sanda derweil nicht anknüpfen, seine Netzwerke sind noch etwas eingerostet. Vor allem aber ist die Konkurrenz riesig. „Während das Gesetz galt, hatten alle Angst“, sagt Sanda, „nun will jeder mitmachen, der Profit ist niedrig.“ Doch Schlepper Sanda hat keine Zweifel, dass sein Geschäft bald wieder auf dem alten Stand sein wird. „Es kommen jetzt seit ein paar Wochen deutlich mehr Migranten nach Agadez“, sagt er. Er blickt auf sein Handy, wo neue Nachrichten seiner Kundschaft aufpoppen. Darunter sind auch wieder die ersten Danksagungen aus Italien

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