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Meldegesetz: Abends im Parlament

Meldegesetz

Abends im Parlament

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    Der Screenshot zeigt die Abstimmung zur Fortentwicklung des Meldewesens im Bundestag.
    Der Screenshot zeigt die Abstimmung zur Fortentwicklung des Meldewesens im Bundestag. Foto: Deutscher Bundestag dpa

    Es war Donnerstag, der 28. Juni, um 20.51 Uhr. Die ganze Nation saß vor den Fernsehgeräten, um das mit Spannung erwartete Halbfinale bei der Fußball-Europameisterschaft zwischen Deutschland und Italien zu verfolgen. Nur im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes musste ein kleines Häuflein an Bundestagsabgeordneten ausharren, es lief seit neun Uhr morgens die 187. Sitzung des Parlaments in dieser Legislaturperiode, die vorletzte Sitzung vor der Sommerpause.

    Meldegesetz: Eine Debatte gab es nicht

    Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau von der Linkspartei rief den Tagesordnungspunkt 21 auf, „zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens“, Bundestags-Drucksache 17/7746. Danach ging es ganz schnell. Eine Aussprache fand nicht statt, eine Debatte gab es nicht, die Berichterstatter der einzelnen Fraktionen gaben ihre Reden zu Protokoll, Pau konnte unverzüglich zur Abstimmung kommen. Mit ihrer Mehrheit winkten 17 Parlamentarier von CDU, CSU und FDP den Gesetzentwurf durch, zehn Abgeordnete von SPD, Grüne und Linke stimmten mit Nein. Nach nicht einmal einer Minute war der Tagesordnungspunkt abgehakt, es lief die siebte Minute im EM-Halbfinale.

    Roth schaute Fußball, Süßmair betreute eine Besuchergruppe

    Dass ein spärlich besetztes Parlament Gesetze ohne Debatten verabschiedet, weil die Experten aller Fraktionen ihre Beiträge zu Protokoll geben, ist weder neu noch ungewöhnlich. Auch die von unserer Zeitung befragten Parlamentarier aus der Region dürften das so sehen. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth gab zu, Fußball geschaut zu haben und berief sich ansonsten auf die „zuständigen Fachleute unserer Fraktion“. FDP-Mann Erwin Lotter hatte parallel zur Sitzung ein „gesundheitspolitisches Gespräch“ und Alexander Süßmair von der Linkspartei betreute eine Besuchergruppe. Der Sozialdemokrat Heinz Paula teilte mit, der Bundestag sei „ein sogenanntes Arbeitsparlament“ und erklärte sein Fernbleiben damit, dass sich „ein großer Teil der parlamentarischen Arbeit in den Ausschüssen abspielt“. Die CSU-Politiker Eduard Oswald und Christian Ruck sowie Miriam Gruß von der FDP äußerten sich bis gestern Abend nicht auf die Anfrage.

    In der Regel fällt es kaum auf, wenn Gesetze von einer verschwindend kleinen Zahl an Parlamentariern auf den Weg gebracht werden. In diesem Falle aber sorgte das schnelle Durchwinken für erheblichen Ärger. Mit eineinhalb Wochen Verspätung wurde nämlich bekannt, was die Abgeordneten der schwarz-gelben Koalition mit ihrer Mehrheit im Schatten des Fußballspiels beschlossen hatten: Die Städte und Gemeinden erhalten das Recht, die Meldedaten ihrer Bürger an Adresshändler, die Werbewirtschaft oder andere Unternehmen zu verkaufen. Selbst dann, wenn die Bürger bei der Meldebehörde Widerspruch dagegen eingelegt haben, sollte das möglich sein, nämlich dann, wenn es nur um eine Bestätigung oder Berichtigung von bereits vorhandenen Daten geht.

    Und plötzlich will niemand mehr etwas davon wissen

    Das missglückte Meldegesetz - eine Chronologie

    28. Juni: Der Bundestag verabschiedet das neue Meldegesetz. Darin eingeschlossen: Eine kurzfristig von CSU und FDP eingebrachte Änderung, nach der sich Bürger nicht mehr so einfach gegen die Weitergabe ihrer Daten wehren können.

    An der Abstimmung nehmen nur 27 Abgeordnete teil - zeitgleich läuft das EM-Halbfinale Deutschland-Italien.

    In Pressemitteilungen kritisieren Oppositionspolitiker - darunter die Nördlinger SPD-Abgeordnete Gabriele Fograscher - die Neuregelung. Das große Medienecho bleibt aber zunächst aus.

    In den nächsten Tagen berichten mehrere Fachportale wie heise.de und Blogs wie netzpolitk.org über den geschwächten Datenschutz im Meldewesen.

    05. Juli: Die SPD kündigt an, das vom Bundestag beschlossene neue Meldegesetz im Bundesrat doch noch stoppen zu wollen.

    6. bis 8. Juli: Die Neuregelung schlägt jetzt immer höhere Wellen in den Medien.

    8. Juli: Auch Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) sieht nun Nachbesserungsbedarf beim neuen Meldegesetz. «Nach dem Beschluss des Bundestags sehe ich hier noch Diskussionsbedarf», sagt sie der «Berliner Zeitung».

    9. Juli, vormittags: Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) lehnt vorschnelle Kritik an dem vom Bundestag verschärften Meldegesetz ab. Der Datenschutz werde dadurch gegenüber der jetzigen Rechtslage verbessert, sagt er vor den Medien.

    9. Juli, vormittags: CSU-Chef Horst Seehofer kündigt an, das vom Bundestag verschärfte Meldegesetz zu stoppen. «Wenn das stimmt, was ich bisher weiß, dann wird Bayern dem nicht zustimmen», sagt er.

    9. Juli, später Vormittag: Die Bundesregierung distanziert sich vom Meldegesetz. Man gehe davon aus, dass es im parlamentarischen Verfahren wieder verändert werde.

    9. Juli, nachmittags: Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich rechnet nach eigenen Angaben fest damit, dass der Bundesrat das umstrittene Meldegesetz zumindest in Teilen entschärft.

    6. September: Der Innenausschuss des Bundesrates plädiert dafür, dass der Vermittlungsausschuss von Länderkammer und Bundestag sich den Entwurf noch einmal vornimmt und korrigiert.

    Selbst die Regierung ging gestern auf Distanz zu dem Beschluss der eigenen Koalition. „Das Kabinett hält es für denkbar, dass es im weiteren parlamentarischen Verfahren noch Änderungen an dem Gesetz gibt, die dem Datenschutz stärker Rechnung tragen“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.

    Denn im ursprünglichen Gesetzentwurf vom 2. September 2011 hatte Innenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU das genaue Gegenteil vorgesehen. Den Einwohnermeldeämtern sollte es verboten werden, mit den Grunddaten der Bürger Handel zu treiben, es sei denn, die Bürger hätten ausdrücklich zugestimmt. Doch in den Beratungen des Innenausschusses setzten sich die Lobbyisten der Werbewirtschaft durch. Auf Betreiben des CSU-Abgeordneten Hans-Peter Uhl und seiner FDP-Kollegin Gisela Piltz wurde der Entwurf des Kabinetts an einer entscheidenden Stelle geändert: Nun erhielten die Kommunen das Recht, die Daten zu verkaufen, es sei denn, die Bürger haben Widerspruch eingelegt.

    Doch die Lobbyisten hatten sich zu früh gefreut. SPD und Grüne wollen das Gesetz im Bundesrat stoppen. Und selbst die CSU will plötzlich nichts mehr von ihren eigenen Änderungen wissen.

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