Der Moment der Wahrheit kommt für Stina an einem Abend im Sommer 2006. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 26 Jahre alt und studiert Jura, bald steht ihr erstes Staatsexamen an. „Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, mich einer Folge von „Verbotene Liebe“ zu befinden und als würde ich die Situation nur als Zuschauer beobachten.“ Stina ist ein Spenderkind: Ein Kind, das aus einer Samenspende entstanden ist.
Für Stina ist diese Erkenntnis ein Schock. Sie bricht eine Zeit lang den Kontakt zu ihren Eltern ab. Irgendwann macht sie sich auf die Suche nach ihrem biologischen Vater und schreibt dem Arzt, der die Samenspende bearbeitet hat. Ohne Erfolg. Alle Unterlagen sind vernichtet worden. Über das Internet kommt sie in Kontakt mit anderen Spenderkindern, gemeinsam gründen sie 2009 den Verein „Spenderkinder“.
Nur ein Bruchteil der Spendenkinder weiß über seine Herkunft Bescheid
Mehr als 100000 Spenderkinder gibt es in Deutschland, weltweit sind es viele Millionen. Laut Schätzungen von Experten weiß nur ein Bruchteil von ihnen um ihre Entstehung. Wie viele genau, ist unklar. Die Familientherapeutin Petra Thorn sagt: „Es gibt in keinem Land belastbare Zahlen.“ Thorn beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema und setzt sich dafür ein, dass eine Familienbildung mit Samenspenden von ihrem gesellschaftlichen Stigma befreit wird.
Thorn berät vor allem Elternpaare. Oft geht es um die Aufklärung des Kindes. Die Familientherapeutin will erreichen, „dass die Eltern so selbstsicher wie möglich sind, dass sie das zu Hause alleine umsetzen können“. Thorn sagt, inzwischen würden immer mehr Spenderkinder über ihre Herkunft aufgeklärt. Ihrer Ansicht nach ist das gut: „Es ist sehr wichtig, da sonst ein Familiengeheimnis entsteht, das auf Dauer sehr schwierig durchgängig aufrecht zu erhalten ist.“ Eltern verschweigen dem Kind die Wahrheit vor allem aus einem Grund: Angst. Vor Hänseleien, Ausgrenzung oder davor, dass die Beziehung zum sozialem Vater beschädigt wird.
Thorn kann diese Sorgen entkräften: „Wir wissen mittlerweile, dass diese Ängste eigentlich gar keine Berechtigung haben.“ Am besten kämen Kinder damit zurecht, wenn sie frühzeitig aufgeklärt würden. „Ein angemessenes Alter ist in der Regel im Kindergarten.“ Wenn sie davon erst in der Pubertät oder später erfahren, können sie laut der Familientherapeutin einen Identitätsbruch erleben. Die Kinder reagieren unterschiedlich: Viele seien neugierig, andere wiederum interessierten sich kaum für das Thema.
In einer Münchner Samenbank bekommen Spender pro Spende 80 Euro
Am 31. Januar 1989 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass jeder Mensch ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung hat. Für Spenderkinder ist das trotzdem kein einfacher Weg. Denn Samenspendern wurde früher – oft vertraglich – vollständige Anonymität zugesichert, Unterlagen sind häufig unvollständig oder vernichtet. Bis 2007 mussten sie nur zehn Jahre lang aufbewahrt werden. Seitdem hat sich die Gesetzeslage geändert: Samenspender müssen darüber aufgeklärt werden, dass Kinder später Kontakt zu ihnen suchen könnten. Kliniken müssen die Unterlagen nun 30 Jahre lang aufbewahren.
Einer der größten Samenbanken in der Region ist die Cryobank München. Sie ist in einem großen Ärztehaus im Stadtteil Solln untergebracht. Drinnen sieht es aus wie in einer ganz normalen, modernen Arztpraxis: Helle Einrichtung, freundliche Atmosphäre. Samenspender bekommen hier pro Spende insgesamt 80 Euro. Constanze Bleichrodt, Diplompsychologin und Geschäftsführerin der Cryobank, schätzt, dass mit Spendersamen aus der Münchner Samenbank 3000 bis 3500 Kinder entstanden sind. „Ich nehme an, über die Hälfte wird es nicht wissen“, sagt sie.
Nicht einmal 20 Spenderkinder hätten sich bislang nach Unterlagen zum Spender erkundigt. Auskunft habe man aber leider keine geben können: Weil für die Fälle noch der Aufbewahrungszeitraum von zehn Jahren galt, sind die Daten bereits vernichtet worden. „Aus heutiger Sicht mag man nicht verstehen, warum das getan wurde“, sagt Bleichrodt. Inzwischen sollen die Unterlagen aus der Cryobank München aber 100 Jahre erhalten bleiben und sind notariell beglaubigt. „Das ist noch mehr Sicherheit – für uns und für die Kinder“, sagt Bleichrodt.
Aber selbst, wenn die Daten noch vorhanden sind, wollen manche Kliniken sie nicht herausgeben. 2013 klagte erstmals eine Frau ihren Anspruch ein: Das Oberlandesgericht Hamm verpflichtete eine Klinik, den Namen ihres biologischen Vaters zu nennen. Auch der Bundesgerichtshof bestätigte den Auskunftsanspruch. Und dennoch bekommt nicht jedes Spenderkind die Informationen vom behandelnden Arzt.
"Die Lobby der Spenderkinder ist nicht besonders groß"
„Man hat durch Gerichtsurteile keine Rechtssicherheit“, sagt Claudia Brügge, Vorsitzende des Vereins „DI-Netz, Familiengründung mit Spendersamen“. Wenn die Klinik sich gegen die Herausgabe sperrt, hilft nur eines: „Man muss klagen.“ 100 Familien sowie 120 Kinder sind Mitglied bei der Organisation. Der Verein setzt sich für ein Auskunftsrecht der Kinder ein. „Für manche ist es eine quälende Frage: Von wem habe ich mein Gesicht, mein Aussehen oder vielleicht mein besonderes Talent?“, erklärt Brügge.
Auch der Verein „Spenderkinder“ hat politische Forderungen: Spenderkinder sollen die rechtliche Vaterschaft ihres sozialen Vaters anfechten dürfen. „Jeder Mensch, der einen rechtlichen Vater hat, mit dem er genetisch nicht verwandt ist, kann die Vaterschaft anfechten. Nur für Adoptierte gelten besondere Regeln“, sagt Anne M., Vorstandsmitglied für Öffentlichkeitsarbeit bei „Spenderkinder“. Die 31-Jährige ist selbst Spenderkind und möchte lieber anonym bleiben.
Der größte Knackpunkt für den Rechtsanspruch ergibt sich, wenn der Samenspender dadurch rechtlich als Vater festgestellt würde: Theoretisch folgt daraus eine Unterhaltspflicht sowie ein Erbrecht. Deshalb will der Verein, „Spenderkinder“ der über 90 Mitglieder hat, diese Ansprüche auf jeden Fall gesetzlich ausschließen lassen, um diese Hürde zu beseitigen. Aber: „Die Lobby der Spenderkinder ist nicht besonders groß“, sagt Anne M.
Mal denkt Stina mehr über die Spende nach, mal weniger
Vor etwas mehr als einem Jahr ist ein weiterer politischer Akteur auf den Plan getreten: der Arbeitskreis Abstammungsrecht, der vom Bundesjustizministerium ins Lebens gerufen wurde. Der Arbeitskreis beschäftigt sich grundsätzlich mit der Frage, ob das geltende Abstammungsrecht noch zeitgemäß ist.
Dazu soll er im Herbst 2017 einen Maßnahmenkatalog vorlegen, sagt ein Sprecher des Justizministeriums. Dabei geht es auch um folgende Frage: „Muss man das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft bei Samenspenden gesetzlich regeln?“ Eigentlich gibt es darauf seit über zwei Jahren eine Antwort. Sie steht auf Seite 70 des Koalitionsvertrags: „Wir werden das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft bei Samenspenden gesetzlich regeln.“ Im Ministerium räumt man den Widerspruch ein. Aber, so heißt es, die Experten im Arbeitskreis sollen sich unabhängig von politischem Druck austauschen – deshalb also möglichst offene Fragestellungen.
Für Stina ist ihre Entstehung durch eine Samenspende mittlerweile ein „normaler Teil“ ihrer Geschichte, schreibt sie auf der Internetseite des „Spenderkinder“-Vereins. „Manchmal denke ich mehr darüber nach, manchmal auch weniger.“
Seit sie selbst ein Kind bekommen hat, ist das Thema wieder besonders relevant. Weil sie sich fragt, was sie von ihrem genetischen Vater geerbt hat, wenn sie jemand auf eine Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Kind anspricht. Und weil auch sie in absehbarer Zeit ein ernstes Gespräch führen muss: „Zuletzt muss ich mir jetzt auch überlegen, wie ich meinem Kind irgendwann sage, dass es einen unbekannten genetischen Großvater hat.“