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Medizin: Wird zu häufig operiert? "Patienten sollten skeptisch sein"

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Wird zu häufig operiert? "Patienten sollten skeptisch sein"

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    Selbst Chefärzte räumen ein, dass in Deutschland Patienten zu oft in den Operationssaal geschoben werden, wie der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem in seinen Studien belegen konnte.
    Selbst Chefärzte räumen ein, dass in Deutschland Patienten zu oft in den Operationssaal geschoben werden, wie der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem in seinen Studien belegen konnte. Foto: sudok1 - Fotolia

    Jürgen Wasem ist Professor für Medizinmanagement an der Uni Duisburg-Essen. Der 55-jährige Gesundheitsökonom gilt als gefragter unabhängiger Berater von Politik und Krankenversicherungen. Die „Frankfurter Allgemeine“ zählt ihn zu den sieben einflussreichsten Ökonomen Deutschlands.

    Ihr Institut hat kürzlich mit einer Untersuchung Aufsehen erregt, wonach selbst 40 Prozent der Chirurgen davon ausgehen, dass aus wirtschaftlichen Gründen zu viel operiert wird. Müssen Patienten heutzutage mit Misstrauen ins Krankenhaus gehen?

    Jürgen Wasem: Eine gesunde Skepsis ist sicherlich angebracht. Deshalb halte ich die Überlegung der Politik für sinnvoll, dass die Krankenkassen es künftig bezahlen müssen, wenn sich Patienten vor einem geplanten Eingriff eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung einholen wollen. In bestimmten Fällen sollte dies die Regel und nicht die Ausnahme sein.

    Wie haben Ärzte auf Ihre Studie reagiert, dass oft unnötig operiert wird?

    Wasem: Wir haben bei unserer Studie die Chefärzte nicht gefragt, ob sie selbst unnötig operieren, sondern, ob es so etwas in ihrem Fachgebiet gibt. In vielen Gesprächen haben mir viele Mediziner hinterher erklärt, dass der ökonomische Druck auf sie stark sei. Viele Chefärzte leiden darunter, dass die Verwaltung von ihnen erwartet, ökonomische Zielvorgaben zu erfüllen.

    Werden Patienten für finanzielle Zwecke missbraucht? Wie viel haben wirtschaftliche Gründe mit dem starken Anstieg der Operationszahlen zu tun?

    Wasem: Die Alterung der Gesellschaft erklärt maximal ein Drittel des Anstiegs der Operationszahlen. Über den Rest wird gestritten: Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sagt, er ist ausschließlich Folge des medizinischen Fortschritts, der es ermöglicht, mehr Patienten zu operieren als früher. Die Krankenkassen sagen dagegen, der Anstieg sei rein ökonomisch motiviert. Ich würde vermuten, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt. Aber eine exakte Prozentzahl, wie viel davon medizinischer Fortschritt und wie viel ökonomische Gründe ausmachen, lässt sich nicht seriös belegen.

    Wie sehr haben Gesundheitsreformen mit dem Problem zu tun? Zwar wurde das Ziel erreicht, die Patienten-Liegedauer im Krankenhaus zu reduzieren, aber ein Gesundheitsminister sagte jüngst: „Früher hatten wir Freiheitsberaubung, heute Körperverletzung.“

    Wasem: In einem Bereich begrenzter finanzieller Mittel löst jedes System, wie Krankenhäuser bezahlt werden, bestimmte Anreize aus. Früher wurde jeder Tag des Krankenhausaufenthalts bezahlt. Das hat die Kliniken eingeladen, Patienten in der Tendenz eher zu lange dazubehalten. Das heutige Vergütungssystem hat tatsächlich den Anreiz, Patienten stärker operativ zu behandeln.

    Ist es aber für Patienten nicht viel riskanter, unnötig operiert zu werden, als zu lange im Krankenhaus zu liegen?

    Wasem: Da wir auch das große Problem der Krankenhausinfektionen und Hygiene haben, wäre ich mir da gar nicht so sicher. Auch eine medizinisch nicht notwendige Verlängerung des Krankenhausaufenthalts kann für Patienten gefährlich sein.

    Im Oktober musste sogar der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft zurücktreten, weil es in seiner Klinik zu massiven Hygieneproblemen kam. Wie sehr stecken ökonomische Gründe hinter solchen Problemen?

    Wasem: In Deutschland wurde das Krankenhaushygiene-Problem lange Zeit unterschätzt. Zu diesem mangelnden Bewusstsein kam dann die schwierigere ökonomische Situation vieler Krankenhäuser. So wurde die Hygiene einer der Bereiche, wo man Kosten sparen kann, ohne dass dadurch Einnahmen sinken. Es wurde schlicht zu wenig investiert. Das gleiche Problem haben wir beim Krankenhauspflegepersonal.

    Krankenschwestern und Krankenpfleger, aber auch Klinikmanager kritisieren, dass die persönliche Zuwendung zu den Patienten immer mehr leidet. Wird der Pflegebereich vernachlässigt?

    Wasem: Ja, eindeutig. Das Fallpauschalensystem hat den Anreiz, dass die Klinken eher die Ärztezahlen ausbauen, weil die mehr Fälle leisten. Man kann das deutlich sehen: Die Ärztezahl hat in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich zugenommen. Die Zahl der Pflegekräfte hat bis vor wenigen Jahren stetig abgenommen. Die Krankenpflege ist für die Krankenhäuser nur ein Kostenfaktor, während der Arzt Erlöse bringt. Davon müssen wir weg.

    Mit der von Bund und Ländern jetzt geplanten Krankenhausreform sollen hunderte Millionen in den Pflegebereich fließen. Schafft das Linderung?

    Wasem: Das Pflege-Sonderprogramm ist ein Anfang. Aber es wird verpuffen, wenn sich nichts grundsätzlich ändert. Deswegen finde ich die Ankündigung wichtiger, ein Konzept zu entwickeln, wie die Pflege besser im Fallpauschalensystem berücksichtigt werden soll. Das ist entscheidend: Kliniken, die mehr Pflegekräfte einstellen, müssen auch mehr Geld aus dem Finanzierungstopf erhalten. Dazu muss man die Leistung von Pflege besser messen. Hier gibt es international Vorbilder.

    Obwohl so viel Geld wie nie in das Klinikwesen fließt, schreiben mehr Krankenhäuser denn je rote Zahlen. Woran krankt das Finanzierungssystem?

    Wasem: Das Fallpauschalensystem hat den Anreiz, mehr Leistungen zu produzieren. Mehr Leistungen führen zu mehr Kosten. Wir müssen aus diesem Teufelskreis ausbrechen, dass die Kliniken auf Menge setzen. Wir bauchen andere Anreize: Auch wer nicht nur immer mehr Leistungen produziert, muss ausreichend Geld erhalten und darf sich nicht verschlechtern. Das versucht die Politik mit ihrer neuen Krankenhausreform. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das gelingt.

    Ist das umstrittene Fallpauschalensystem schuld an den vielen Problemen?

    Wasem: Die Geldknappheit, über die viele Krankenhäuser klagen, ist keine Folge der Fallpauschalen. Mit jedem System muss die Politik zwischen Mehrausgaben, die das Gesundheitswesen brauchen könnte, und der Beitragsstabilität der Krankenversicherung die Balance halten. Das Fallpauschalensystem hat auch viele Vorteile gebracht. Die Krankenhäuser arbeiten heute viel effizienter. Die Leistungen der Kliniken sind viel transparenter als früher und vergleichbarer. Und das System hat sich als lernfähig erwiesen.

    Die Politik will die Zahl der Krankenhäuser reduzieren. Werden die kleinen Kliniken und damit die Menschen auf dem Land die Verlierer sein?

    Wasem: Diese Sorge ist zum Teil berechtigt, aber man sollte es nicht schwarz-weiß sehen. Man kann nachweisen, dass eine Zentralisierung in der Regel die Qualität verbessert. Häuser, die mehr Eingriffe einer bestimmten Art machen, haben durch die Lerneffekte meist bessere Ergebnisse. Wir werden eine Ausdünnung in der Fläche erleben, aber im internationalen Vergleich bleiben wir auch im ländlichen Raum sehr gut aufgestellt. Zudem soll die Notfallversorgung bei der geplanten Reform bei der Vergütung gestärkt werden. Deshalb erwarte ich, dass wir auf dem Land keinen Kahlschlag erleben werden.

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