Mehr als neunzig Jahre hatte sich die rüstige Frau auf ihren Körper verlassen können. Dann erhielt sie im Heidelberger Krankenhaus Salem die verhängnisvolle Diagnose: Darmkrebs, fortgeschrittenes Stadium, unheilbar. Nur noch wenige Monate zu leben. Die Patientin war entsetzt. Sie wollte so schnell wie möglich sterben. Klinikseelsorgerin Christiane Bindseil wurde herbeigerufen.
Bindseil hatte es nicht weit. Raus aus ihrem Büro im dritten Stock, den Flur entlang, links hinein in das schlichte Zweibettzimmer mit der Frau, die ihr Schicksal nicht fassen konnte. Bindseil hat Situationen wie diese schon häufig erlebt. Patienten, die ihr Leid nicht mehr länger ertragen wollen, die sich fragen, warum es ausgerechnet sie getroffen hat, die sich lieber früher als später den Tod wünschen. Die 43-Jährige hört dann zu, lässt sich von ihren Patienten alle ihre Ängste erzählen, tröstet sie, spricht Mut zu. Viele rücken dann wieder von Suizidgedanken ab.
In der Schweiz haben Ärzte mehr als 2000 Mal Sterbehilfe geleistet
Nicht aber diese Frau. Sie wolle nicht dahinsiechen. Wünsche sich einen kurzen und schmerzlosen Tod. Die Frau beschloss: „Ich gehe in die Schweiz.“ Dort haben Ärzte des Sterbehilfe Vereins Dignitas bereits über 2000 Menschen beim Freitod geholfen. Die Organisation legt aber Wert darauf, dass sie zugleich in der Suizidprävention Zehntausende überzeugt hat, weiterzuleben. In Deutschland ist die passive Sterbehilfe, etwa das Abschalten von Geräten, straffrei. Bislang galt das Gleiche auch für die sogenannte Beihilfe zum Suizid, etwa durch das Überlassen eines tödlichen Medikaments. Allerdings beschloss der Bundestag im November 2015 ein Gesetz, das die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe belegt. Ging der Bundestag mit der Reform zu weit? Das fragen sich inzwischen auch Palliativmediziner, die sich zunehmend kriminalisiert fühlen.
Streit um das Wort "geschäftsmäßig"
Die Bundesärztekammer stellte sich damals hinter den letztlich beschlossenen Gesetzesentwurf. Umstritten war von Anfang an das Wort „geschäftsmäßig“. Mit dieser Formulierung zielten die Abgeordneten auf Vereine wie Dignitas oder Sterbehilfe Deutschland, die Mitgliedern nach Schweizer Vorbild Hilfe beim Freitod versprachen oder vermittelten. Doch laufen damit nicht auch Ärzte Gefahr, strafbar zu handeln? Haben nicht auch sie geschäftsmäßig, sprich wiederholt, mit schwerkranken Patienten zu tun und verschreiben ihnen möglicherweise Medikamente, die zum vorzeitigen Tod führen könnten?
Solche Bedenken versuchen ihnen angesehene Verbände wie der Deutsche Hospiz- und Palliativverband zu nehmen. Sie befürworten die Gesetzesänderung. Auch die Bundesärztekammer könne „keine Gefahr der Kriminalisierung der Ärzteschaft erkennen“, schrieb sie wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung des neuen Sterbehilfe-Gesetzes, an jeden Bundestagsabgeordneten. Der Berliner Rechtsanwalt Dieter Graefe, der die Sterbehilfeorganisation Dignitas vertritt und nun im Auftrag eines Palliativmediziners vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Reform klagt, nennt jedoch das eine „falsche Behauptung“.
Die Abgeordneten diskutierten zwei Jahre lang
Graefe wirft Ärztekammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery vor, als Sterbehilfe-Gegner das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten persönlich beeinflusst zu haben. Die Bundesärztekammer weist das zurück: „Die deutsche Ärzteschaft hat sich stets eindeutig gegen die sogenannte aktive Sterbehilfe ausgesprochen.“ Suizidbeihilfe sei keine ärztliche Aufgabe.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand verfasste mit Kollegen aus allen Fraktionen das Gesetz. Auch er wehrt er sich gegen Graefes Anschuldigungen. Nicht nur viele Rechtsexperten hätten den Entwurf gutgeheißen, sondern auch die wichtigsten deutschen Verbände für Palliativmedizin. „Es spricht doch Bände, wenn diejenigen, die nah dran sind, die Reform massiv unterstützen“, sagt Brand. „Sie sehen es gerade nicht als ihre Aufgabe an, beim Töten zu helfen.“ Auch die SPD-Bundestagsabgeordnete und Gesetzes-Mitautorin Kerstin Griese betont: „Es gab eine über zwei Jahre andauernde und sehr tief gehende Diskussion zu einer Vielzahl von ethischen Fragen, bei der am Ende keinesfalls ein einzelnes Argument oder eine einzelne Stellungnahme ausschlaggebend war.“
Ist es strafbar, wenn ein Arzt einem Suizidgefärdeten Morphium gibt?
Kaum zwei Wochen nach der Abstimmung standen zwei Kriminalbeamte vor der Praxistür des Palliativmediziners Matthias Thöns. Unter ungeklärten Umständen war ein Patient des Arztes aus Witten in Nordrhein-Westfalen zu Hause gestorben. Wochenlang hatte der Mann mit Luftnot zu kämpfen. Die Schmerzen schienen ihm unerträglich. Offen sprach er von Selbstmord. Thöns verschrieb ihm ein Morphiumpräparat, um Panikattacken zu lindern – eine gängige Praxis bei Palliativmedizinern. Kurz darauf war der Patient tot. Er hinterließ einen Abschiedsbrief.
Brachte sich der Sterbewillige mit einer Überdosis Morphium selbst um? Hatte sich Thöns strafbar gemacht? Immerhin hatte er dem Patienten das Medikament überlassen, obwohl er von dessen Suizidabsicht wusste. Die Beamten verlangten die Krankenakten des Patienten.
Die Ermittlungen wurden eingestellt
Die Ermittlungen wurden zwar schließlich eingestellt, trotzdem blieb bei Thöns ein ungutes Gefühl. Allein ein Ermittlungsverfahren könne für einen Arzt das Aus bedeuten, sagt der 50-Jährige. „Ich kenne Kollegen, die haben dann ihren Job und damit ihre berufliche Existenz verloren.“ Thöns hat seitdem von mehreren Palliativmedizinern besorgte Anrufe bekommen. Er selbst ist in seiner Arbeit vorsichtiger geworden. Jeder vierte seiner Patienten äußere mehr oder weniger eine Lebensmüdigkeit, jeder benötige stark wirksame Morphiumpräparate, die bei Fehlanwendung tödlich sein könnten. „Das Gesetz führt dazu, dass ich solche Patienten im Stich lassen muss“, sagt der Arzt.
Beim Bundesverfassungsgericht liegen 13 Beschwerden gegen die Reform vor. Sieben Klagen stammen von Ärzten wie Thöns. Zudem haben Sterbehilfeorganisationen wie Dignitas Beschwerde eingelegt.
Der CDU-Abgeordnete Brand sieht das gelassen: „Wir haben das Gesetz eingehend auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft“, betont er. Das Gesetz habe bewirkt, was es sollte: „Organisationen wie Dignitas oder Sterbehilfe Deutschland mussten ihre Tätigkeiten einstellen“, sagt Brand. „Die Reform wirkt zielgenau und präventiv, alle düsteren Prognosen sind nicht eingetreten.“
SPD-Abgeordnete Dittner: Das Gesetz hat kein Problem gelöst
Das sieht die SPD-Bundestagsabgeordnete Sabine Dittmar anders, die selbst approbierte Ärztin ist. Die fränkische Medizinerin stimmte gegen das Sterbehilfe-Gesetz und sieht sich heute bestätigt. „Das Gesetz hat kein Problem gelöst“, sagt die Gesundheitspolitikerin. „Im Gegenteil. Nun fürchten Palliativmediziner kriminalisiert zu werden und fühlen sich in ihrer Arbeit eingeschränkt.“ Dittmar lehnt Sterbehilfevereine wie Dignitas ab. Um gegen deren Praktiken vorzugehen, hätte aber die alte Gesetzeslage ausgereicht, sagt sie. Dem stimmt die Heidelberger Klinikseelsorgerin Bindseil zu. „Die tragischen Situationen, in denen es für einen kranken Menschen keine andere Wahl als die Selbsttötung zu geben scheint, kann man gar nicht mit einem Gesetz regeln“, sagt sie. Die 43-Jährige findet auch, dass die Debatte in keinem Verhältnis steht zu den wenigen Fällen, die das Gesetz betrifft. Viel häufiger stelle sich für Patienten, Pfleger und Ärzte die Frage, wie eine Therapie sinnvoll begrenzt werden könne.
Seit fünf Jahren arbeitet Bindseil als Klinikseelsorgerin im Krankenhaus Salem. Sie kann sich an zwei Patienten erinnern, die fest entschlossen waren, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Der eine aß nichts mehr. Die andere, die eingangs erwähnte Frau mit dem Darmkrebs, unterzog sich einer riskanten Operation. Nur etwa 50 Prozent würden überleben, sagten ihr die Ärzte.
Die alte Frau gehörte nicht dazu.