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Martin Schulz: Im Schulz-Rausch: Was finden die Leute bloß an ihm?

Martin Schulz

Im Schulz-Rausch: Was finden die Leute bloß an ihm?

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    Der Kanzlerkandidat der SPD beim Politischen Aschermittwoch im bayrischen Vilshofen.
    Der Kanzlerkandidat der SPD beim Politischen Aschermittwoch im bayrischen Vilshofen. Foto: Daniel Karmann, dpa

    Martin Schulz ist nicht der Typ, nach dem sich die Leute umdrehen, wenn er einen Raum betritt. Wären da nicht all die Fotografen um ihn herum, man würde kaum Notiz von ihm nehmen, als er ins Bierzelt von Vilshofen kommt.

    Ingrid und Winfried Bergmann haben eine Antwort. Sie werden beide in diesem Jahr 80 und sind „früher mal SPDler gewesen“, wie sie erzählen. Aber das ist ziemlich lange her. Beim Politischen Aschermittwoch waren sie noch nie, obwohl sie in Vilshofen wohnen. Dass sie jetzt schon morgens um 8 Uhr hier ans Donauufer gekommen sind, liegt ausschließlich am Kanzlerkandidaten. „Er spricht Themen an, die in den letzten Jahren untergegangen sind“, sagt Winfried Bergmann. Seine Frau, die betont, ihr Großvater habe

    Am Nebentisch bestellt sich ein Mann mit grauem Rauschebart, der das Wort Frühschoppen sehr ernst zu nehmen scheint, eine weitere Halbe. Den Deutschen geht es gut. Den meisten jedenfalls. Und trotzdem hat die Mehrheit einer aktuellen Umfrage zufolge das vage Gefühl, dass es irgendwie nicht gerecht zugeht in unserem Land. Dieses Gefühl greift Schulz auf. Auch in Vilshofen erzählt er von seiner Familie – die Mutter Hausfrau, der Vater Polizeibeamter, er selbst lieber auf dem Bolzplatz als in der Schule. Einfache Leute eben. Das schafft Vertrautheit.

    Wir leben in einer Zeit, in der kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Terror, Ukraine, Brexit, Trump – es steht so viel auf dem Spiel. Und die Durchschnittsmenschen fragen sich, wer da eigentlich noch über ihre Probleme redet. Wer sich eigentlich um sie, die normalen Bürger, kümmert, die brav ihre Steuern zahlen und die Familie über die Runden bringen. Für viele heißt die Antwort Schulz. „Deutschland ist ein blühendes Land, weil wir eine hart arbeitende Bevölkerung haben, die dieses Land am Laufen hält“, sagt er und fordert mehr Respekt für die Lebensleistung dieser Menschen. Die geschundene sozialdemokratische Seele ist beseelt. Denn obwohl der 61-Jährige als begeisterter Europapolitiker das oft alltagsferne Brüssel verkörpert, nehmen ihm seine Zuhörer ab, dass er – der Durchschnittstyp – sich wirklich für sie interessiert. Dass er sie versteht. Wer sich einmal mit ihm unterhalten hat, kann auch nachvollziehen, warum das so ist.

    Martin Schulz ist einer, der Geschichten erzählen kann

    Schulz spricht eine klare, bildhafte Sprache, er ist einer, der Geschichten erzählen kann. Das heißt nicht, dass er einfach in jedes Mikrofon plappert. Wer ihn etwas fragt, muss mitunter ein bisschen auf eine Antwort warten. Dann kann man förmlich dabei zuschauen, wie sich die Sätze in seinem Kopf entwickeln. Abgesehen davon hat Schulz auch kein Problem damit, mal die Klappe zu halten und zuzuhören. Das hilft ihm, „Fühlung aufzunehmen“, wie er selbst es nennt.

    Die Schulz-Mania hat aber noch eine andere, banalere Ebene. Natürlich wäre es eine Frechheit, zu behaupten, das Beste am Kanzlerkandidaten der SPD sei, dass er nicht Sigmar Gabriel ist. Aber ein bisschen was ist trotzdem dran. An einem Biertisch weit weg von der Bühne sitzt eine Gruppe von Studenten aus Passau. Ob sie auch für Gabriel so früh aufgestanden wären? „Eher nicht“, sagt Hanna Mandel. Sie ist 21 und will im September SPD wählen. Wahrscheinlich hätte sie das eh gemacht, aber es sei doch einfacher, wenn man vom Kandidaten „auch wirklich überzeugt“ ist. Nur, was ist denn nun so überzeugend an diesem Mann, der die Parteijugend derart euphorisiert, dass sie in Vilshofen zeitweise eine Atmosphäre wie im Fußballstadion entfacht?

    Für Hanna Mandel sind es vor allem der entschlossene Kampf gegen Rechtspopulisten und sein flammendes Bekenntnis zu Europa. „In meiner Generation gibt es das negative Bild von

    Christian Kern kommt nicht zu Fuß, sondern mit dem Auto. Der Österreicher ist schon das, was Schulz noch werden will: Bundeskanzler. „Hier spricht die Vorband“, sagt er, als er ans Mikrofon tritt – und hat das Zelt auf seiner Seite. Als dann kurz darauf der „Hauptact“ am Rednerpult steht, bricht für einen Moment die Sonne durch die niederbayerischen Wolken. Viele Sozialdemokraten sind da längst berauscht. Weniger vom Bier als von sich selbst.

    Am Studententisch hört Thomas Ittner genau zu. Der 20-Jährige darf im Herbst zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl seine Stimme abgeben. Bislang sei er nicht auf eine Partei fixiert gewesen, sagt er. „Jetzt ist für mich eigentlich klar, dass ich Schulz wähle. Er ist einfach ein guter Typ, ein frisches Gesicht nach all den Merkel-Jahren.“ Auf dem Tisch liegt ein Plakat. Darauf steht „Zeit für Martin“.

    Die AfD als "Schande für die Bundesrepublik"

    Schulz ist sicher, dass den meisten Deutschen die „Brutalisierung der politischen Auseinandersetzung“ Marke Trump und die Parolen von Rechtspopulisten zuwider sind. „Diejenigen, die Europas Völker wieder aufeinanderhetzen wollen, dürfen unseren Kindern nicht die Zukunft stehlen“, warnt er. „Es gibt wieder Feinde der Demokratie – auch in unserem Land“, sagt Schulz, und es ist klar, wen er damit meint: Die AfD bezeichnet er als „Schande für die Bundesrepublik“. Vor allem die Jüngeren im Publikum klatschen begeistert.

    Das ist Martin Schulz

    Martin Schulz wurde am 20. Dezember 1955 in Hehlrath (heute Stadt Eschweiler) geboren. Mit seiner Frau Inge hat er zwei gemeinsame Kinder.

    Der gerlernte Buchhändler tratt 1974 in der SPD ein und engagierte sich bei den Jusos (Jungsozialisten).

    Seit 1999ist Schulz Mitglied des SPD-Parteivorstandes und Parteipräsidiums.

    Schulz und die Europa-Politik: Mitglied des Europäischen Parlaments ist Martin Schulz seit 1994. Von 2014 bis 2017 war er der Präsident des Europäischen Parlaments.

    Ende 2016 kündigte Schulz seinen Wechsel in die Bundespolitik an:

    Seit kurzem ist bekannt, dass er als neuer SPD-Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl 2017 antreten wird. Der Parteivorsitzende Gabriel hat auf dieses Posten verzichtet.

    2016 wurde die Biografie "Martin Schulz - vom Buchhändler zum Mann für Europa" veröffentlicht. In dem Buch kommen unter anderem die Wegbegleiter Sigmar Gabriel und Jean-Claude Juncker zu Wort.

    Martin Schulz wird immer wieder als wortgewant, witzig, impulsiv und direkt beschrieben.

    Lesen und Fußball sollen zu seinen Hobbys zählen.

    Der Kandidat feuert – wie es sich im Bierzelt gehört – auch ein paar Breitseiten gegen die CSU ab, die nur wenige Kilometer entfernt in Passau zurückschießt. Quasi als Paartherapeut macht er sich über die politische „Zwangsehe“ der Unionsparteien lustig und stellt seine Diagnose: „Die sind nicht mehr ganz beisammen.“ Auch für das kuriose mathematische Verständnis des

    Er will nicht mitmachen beim Schüren von Hass, Wut und Ängsten. Doch genau genommen spielt auch Schulz mit den so oft bemühten „Sorgen der Bürger“. Nicht mit der Angst vor Flüchtlingen, dem Islam oder dem Terror. Aber mit der Angst vor sozialem Abstieg, mit der Angst, auf der Strecke zu bleiben. Dass er nun Teile der erfolgreichen Agenda 2010 infrage stellt und die SPD „entschrödern“ will, wie der Spiegel neulich schrieb, hält der Wahlkampf-Experte Frank Stauss für ein wohlkalkuliertes Manöver. „Der Aufschrei war groß. Aber ich glaube, dass man nicht viele Leute finden wird, die es für richtig halten, dass Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben, bei Jobverlust so schnell in Hartz IV abrutschen. Oder dass junge Leute von einem befristeten Job in den nächsten weitergereicht werden“, sagt Stauss im Gespräch mit unserer Zeitung. Dass Kritiker Schulz wegen seiner Verheißung von mehr sozialer Gerechtigkeit Populismus vorwerfen, hält der einstige Wahlkampfmanager von Gerhard Schröder für absurd: „Er kann doch nichts dafür, dass er jetzt überall schon fast mit Choralklängen und Heiligenschein angekündigt wird.“

    Wie lange kann dieser Hype anhalten?

    Der Politische Aschermittwoch in Vilshofen – im größten Zelt, das die SPD dort je hatte – ist eine Art Wiederauferstehungsparty. Unter Gabriel hatte sich die

    Wie lange kann dieser Hype also anhalten? Und wie lange hält der sozialdemokratische Messias selbst das durch? Bei allem Selbstbewusstsein, bei allem Machtwillen kommt auch der Kandidat bisweilen ins Grübeln. Ja, es gibt diese Momente, in denen er selbst kaum glauben kann, was da gerade passiert, welche Erwartungen die Leute plötzlich in ihn setzen. In einer kleinen Runde mit Journalisten erzählt er am Vorabend des Aschermittwochs, dass er sich durchaus manchmal die Frage stellt: „Was macht das alles mit mir selbst?“

    Auf die Stimmen der Familie Bergmann kann Schulz jedenfalls zählen. „Das war eine fulminante Rede, er macht nicht nur Hoffnung, sondern ist auch sehr überzeugend“, sagt Winfried Bergmann, als die ersten Biertische zusammengeklappt werden. Und dann packt er noch ein paar Fähnchen und Flyer ein. Für die Enkel. Die dürfen in diesem Jahr zum ersten Mal wählen.

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