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Malaysia Airlines: Flug MH17 wurde mit einer Rakete abgeschossen - aber von wem?

Malaysia Airlines

Flug MH17 wurde mit einer Rakete abgeschossen - aber von wem?

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    Das aus Fundstücken rekonstruierte malaysische Passagierflugzeug MH17 wird in Gilze-Rijen auf einer Pressekonferenz präsentiert. Nach Untersuchungen des niederländischen Sicherheitsrats soll das Flugzeug im vergangenen Jahr über der Ostukraine von einer Luftabwehrrakete abgeschossen worden sein.
    Das aus Fundstücken rekonstruierte malaysische Passagierflugzeug MH17 wird in Gilze-Rijen auf einer Pressekonferenz präsentiert. Nach Untersuchungen des niederländischen Sicherheitsrats soll das Flugzeug im vergangenen Jahr über der Ostukraine von einer Luftabwehrrakete abgeschossen worden sein. Foto: Robin van Lonkhuijsen (dpa)

    Hans de Borst steht fast ein wenig ehrfürchtig vor diesem Gerippe, das einmal eine stolze Boeing 777-200 war. Was er sieht, wirkt wie ein dreidimensionales Puzzle, das schreckliche Abbild der in zehn Kilometer Höhe explodierten Maschine mit der Flugnummer MH17 . Luftfahrt-Experten haben die Trümmer auf dem niederländischen Luftwaffen-Stützpunkt Gilze-Rijen lückenhaft über einem Stahlgerüst zusammengesetzt. Es ist das Flugzeug, in das de Borsts Tochter am 17. Juli 2014 in Amsterdam gestiegen ist, um in die malaysische Hauptstadt Kuala Lumpur zu fliegen. Sie kam nie an.

    Flug MH17 wurde von einem Raketenkopf getroffen

    „Die Fachleute nennen ja zwei Theorien, was die Insassen angeht“, sagt de Borst an diesem kühlen Herbsttag. „Die eine lautet, dass sie wahrscheinlich nichts mehr mitbekommen haben. Die andere, dass sie womöglich noch ein paar Sekunden gelebt haben. Ich persönlich halte mich an die erste Theorie, denn es hilft mir nicht, wenn ich mir vorstelle, dass meine Tochter noch zehn Sekunden gelebt hat.“ Wenn man so will, eine Art Überlebensstrategie für einen trauernden Vater.

    15 Monate lang haben Experten aus sieben Ländern unter Leitung des niederländischen Sicherheitsrates versucht herauszufinden, was an jenem Tag gegen 15.20 Uhr über dem umkämpften Osten der Ukraine wirklich passiert ist. Jetzt wissen sie es. Behördenchef Tjibbe Joustra fasst gestern den Abschlussbericht zur Unglücksursache so zusammen: „Flug MH17 stürzte ab, weil auf der linken Cockpit-Seite ein Raketenkopf explodierte.“

    298 Menschen, darunter 80 Kinder, starben. Auch drei Deutsche sind unter den Opfern. Evert van Zijtveld hat bei dem Absturz seinen Sohn, seine Tochter und seine Schwiegereltern verloren. Er sagt: „Wir Hinterbliebene wollen wissen, was passiert ist. Vielleicht nicht alle, aber die meisten wollen endlich Tatsachen sehen.“

    Wer besitzt noch russische Buk-Raketen?

    Dafür ist an diesem Tag Tjibbe Joustra da. Um Punkt Viertel nach eins steht er am Rednerpult direkt vor den Cockpit-Überresten. Sie wirken wie ein riesiges Beweisstück für das, was der Mann nun zu sagen hat. Beispielsweise das: „Es war keine Bombe an Bord, kein technischer Defekt, kein Meteorit und keine Luft-Luft-Rakete, die von einem Militärflugzeug abgeschossen wurde.“ Mithilfe chemischer Analysen habe man Bestandteile einer Buk-M1-Luftabwehrrakete identifizieren können. Das ist ein Raketensystem, das 1979 in der sowjetischen Armee eingeführt wurde und in unterschiedlichen Varianten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bis heute im Einsatz ist. Das heißt: auch in Russland. Die Ukraine hatte zuletzt behauptet, sie habe keine Buk-Systeme mehr. Das Internationale Institut für Strategische Studien in London dagegen spricht zum damaligen Zeitpunkt von mehr als 60 Einheiten im Bestand.

    Das Geschoss war mit einem sogenannten 9N314M-Sprengsatz bestückt. Der Gefechtskopf explodierte wenige Meter neben der linken Cockpitseite, die Splitter durchsiebten die Außenhaut und töteten die Piloten sofort. Die Flugzeug-Konstruktion wurde „durch den enormen Luftdruck“ instabil, der 17 Jahre alte Jet brach auseinander. „Innerhalb weniger Augenblicke hatten die Passagiere und Besatzungsmitglieder das Bewusstsein verloren. Sie bekamen nichts mehr von dem Absturz mit“, sagt der Chef des Untersuchungsteams. Es klingt, als wolle er die anwesenden Angehörigen damit trösten. Doch das kann er nur bedingt. Denn die wollen noch etwas anderes wissen: Wer hat diese Rakete auf das zivile Flugzeug abgeschossen?

    Wer ist schuld am Absturz der Boeing?

    Es ist die drängendste, die wichtigste Frage. Doch sie bleibt unbeantwortet. Schließlich sollten die Techniker nur herausfinden, was das Flugzeug in der Luft explodieren ließ, nicht wer dafür verantwortlich sein könnte. Dabei ist längst bekannt, dass die Russland hörigen Separatisten über Buk-M1-Raketen verfügten, die sie wenige Tage zuvor in ihren Besitz gebracht hatten.

    Zumindest diese Tatsache reichte Moskau bisher, um zu betonen, dass Kämpfer, die für den Umgang mit einem solchen Abwehrsystem nicht geschult waren, einen solchen Abschuss gar nicht hätten durchführen können. Der Kreml gibt ukrainischen Einheiten die Schuld, versuchte in den zurückliegenden Monaten mit getürkten Fotos und gefälschten Satellitenbildern, diese Theorie zu untermauern. Verschwörungstheorien schossen ins Kraut, in denen auch weitere Flugzeuge wie russische Kampfbomber ins Spiel gebracht wurden.

    Gestern Vormittag, Stunden, bevor in den Niederlanden der Abschlussbericht vorgestellt wird, geht Russland in die Offensive. MH17 sei ganz klar von ukrainisch kontrolliertem Gebiet abgeschossen worden, vom Ort Saroschtschenske aus. Ein spektakuläres Sprengexperiment, das den Abschuss simulierte, habe frühere Erkenntnisse bestätigt, sagt Jan Nowikow, Chef des Rüstungskonzerns Almas-Antej, der die Buk-Systeme herstellt, nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax. Dazu ließ Almas-Antej auf einem Testgelände eine Buk-Rakete vom Typ 9M38 am abgetrennten Cockpit einer Iljuschin Il-86 detonieren.

    Eine internationale Untersuchung vor dem Strafgerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag ist bislang von Russland verhindert worden. Noch gestern vereinbaren der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, „einen Mechanismus“ zu finden, um den Schuldigen vor Gericht stellen zu können. Die strafrechtlichen Ermittlungen laufen. Die Staatsanwälte hüllen sich in Schweigen. Die Frage aller Fragen bleibt: Wer ist Schuld am Tod von 298 Menschen?

    Kritik auch an Risiko-Analysen der Fluggesellschaften

    Man hat damit gerechnet, dass die internationalen Ermittler dazu strikt schweigen würden. Doch Tjibbe Joustra lässt sich den Mund doch nicht ganz verbieten. „Warum flog MH17 über ein Gebiet, von dem bekannt war, dass dort ein militärischer Konflikt stattfand?“, fragt er. Minutiös zeichnet der Niederländer die Flugroute vom Start in Amsterdam bis ins malaysische Kuala Lumpur nach. „Die Boeing wählte die Luftstraße L980, die sie direkt über die Ostukraine führte.“ Mehr noch: „In den Tagen zuvor wurden dort mehrere Hubschrauber, Kampfjets und andere Flugzeuge in Höhen bis zu neun Kilometern abgeschossen.“ Trotzdem schickten „61 Airlines aus 31 Ländern insgesamt 160 Jets direkt über das Krisengebiet. Deshalb lautet die erste Schlussfolgerung Joustras: „Staaten und Fluggesellschaften müssen ihre Risiko-Analysen verbessern.“

    Tatsächlich sind die Airlines zunächst selbst für den Weg verantwortlich, den ihre Maschinen nehmen, solange er von der Regierung eines Krisenstaates, der europäischen Luftraumkontrolle Eurocontrol oder der Internationalen Organisation für Zivilluftfahrt (ICAO) freigegeben wurde. Als MH17 explodierte, hatte niemand eine Sperrung oder Umleitungsempfehlung erlassen.

    Ermittler Tjibbe Joustra: Ukraine muss einiges aufklären

    Die zweite Lehre des Behördenchefs fällt noch deutlicher aus: „Die Ukraine hätte ihren Luftraum viel früher für zivile Maschinen sperren müssen.“ Zwar erließ Kiew tatsächlich noch am Abend des 17. Juli ein Überflugverbot. Doch die Maßnahme kam für MH17 zu spät. Hans de Borst, der trauernde Vater, zieht seine eigenen Konsequenzen aus diesen Erklärungen: „Die Regierung der Ukraine muss wohl noch einiges erklären.“

    Einige Konsequenzen hat die zivile Luftfahrt wenigstens unmittelbar nach dem Unglück gezogen. Die meisten Airlines lassen nun vergleichbare Krisenregionen wie den Irak und Syrien umkurven. Schon im August 2014 richtete die ICAO eine Datenbank ein, aus der sich die Gesellschaften mit Informationen über Krisengebiete eindecken können. So wurde ein spezieller Code für kriegerische Auseinandersetzungen eingeführt – eine Maßnahme, deren Wirkung allerdings umstritten blieb.

    Mit dem Flugzeug-Gerippe vor Augen und den Worten des Chef-Ermittlers in den Ohren herrscht am Nachmittag auf dem Stützpunkt Gilze-Rijen eine entsprechend bedrückte Stimmung. „Wir hatten zwei Fragen“, sagt Hans de Borst noch. „Nämlich: Was ist passiert? Und wer hat das getan? Auf die erste Frage haben wir nun Antworten. Die zweite wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.“ Die Verbitterung in seiner Stimme ist dabei nicht zu überhören. (mit dpa)

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