Es war der Auftritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel, der klar machte: Die Europäische Union ist tatsächlich entschlossen, mit aller Schärfe auf den belarussischen „Angriff“ auf ein ziviles Passagierflugzeug am Sonntag zu antworten. „Wir haben eine Zwangslandung gesehen“, sagte die deutsche Regierungschefin zu Beginn des zweitägigen EU-Gipfeltreffens in Brüssel und fügte hinzu: „Alle anderen Erläuterungen für diese Landung des Ryanair-Fluges sind vollkommen unglaubwürdig.“
Sanktionen im Flugverkehr: Keine Direktverbindungen mehr von der EU nach Belarus
Spätestens da war absehbar, dass die 27 Staats- und Regierungschefs Diktator Alexander Lukaschenko in Minsk persönlich für den Vorfall verantwortlich machen und kaum eine Maßnahme zur Vergeltung auslassen würden. David Sassoli, der Präsident des Europäischen Parlaments, forderte die Staatenlenker zu einer scharfen Reaktion auf: „Sie haben heute Abend eine große Verantwortung zu zeigen, dass die Union kein Papiertiger ist.“
Tatsächlich blieb es nicht nur bei der vorbereiteten Strafliste für Lukaschenko. Abgesehen von der Verurteilung der Aktion gegen den Flieger mit mehr als 100 Menschen an Bord wird eine internationale Untersuchung gefordert. Alle europäischen Fluggesellschaften sind aufgerufen, den belarussischen Luftraum nicht länger zu überqueren – was de facto bedeutet, dass es keine Direktverbindungen von der EU nach Weißrussland geben wird. Außerdem wollen die Mitgliedstaaten der belarussischen Airline Belavia alle Starts und Landungen in der Gemeinschaft verbieten. Sie darf die EU auch nicht mehr überfliegen.
EU appelliert: Lukaschenko soll Freilassung von Blogger Protassewitsch und Freundin veranlassen
Damit wäre Belarus faktisch von allen Verbindungen in den Westen abgekoppelt, und außerdem muss das Regime in Minsk mit erheblichen finanziellen Einbußen durch den Wegfall der Flugsteuer rechnen, die bisher für die Nutzung des Luftraums eingenommen wurde. Darüber hinaus kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, dass ein bereit liegendes Finanzpaket in Höhe von drei Milliarden Euro, das für Weißrussland bestimmt war, sofort gestoppt und „eingefroren“ wird, „bis das Land demokratisch geworden“ ist. Man werde den „Druck auf das Regime so lange aufrechterhalten, bis in Belarus die Freiheit der Medien und der Meinung sichergestellt“ sei.
Der verhaftete weißrussische Blogger Roman Protassewitsch und seine Freundin, die Jurastudentin Sofia Sapega, müssten sofort freigelassen werden. Das war kein Appell, sondern eine unmissverständliche Aufforderung, die in keiner Stellungnahme der 27 Staatenlenker fehlte. Hatten noch vor dem Beginn der Beratungen insbesondere der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda und der irische Premier Micheál Martin, in dessen Land Ryanair seinen Hauptsitz hat, eine scharfe Antwort auf den Zwischenfall gefordert – hier war sie. Nicht wenige der EU-Vorderen übernahmen auch die Wortwahl des polnischen Regierungschefs Mateusz Morawiecki, der offen von einem „Akt des Staatsterrorismus“ sprach.
Internationale Kritik für angeblich "normale Reaktion" auf Bombendrohung
Noch am Wochenende hatten die Regierungen in Paris, Brüssel und etlichen weiteren Hauptstädten die belarussischen Botschafter einbestellt und scharf protestiert. Dass die Behörden in Minsk ihrerseits versuchten, den Vorfall als „normale Reaktion im Fall einer Bombendrohung“ darzustellen und auch eine internationale Expertenkommission einluden, um „alle Informationen“ offenzulegen, konnte die aufgebrachte Stimmung im Kreis der EU-Staatenlenker kaum besänftigen.
Wie auch? Schon die vorliegenden Daten zeigten deutlich, dass der Jet sich bereits im Landeanflug auf die litauische Stadt Vilnius befand. Die gängigen Regeln, so gaben Experten der EU unter der Hand zu verstehen, hätten im Fall einer „real existierenden Bombendrohung“ die sofortige Landung am deutlich näheren Zielort vorgeschrieben, aber sicher keinen Umweg nach Minsk.
So war der schnelle Beschluss für das umfangreiche Sanktionspaket am Abend absehbar. Zwar konnten die Staats- und Regierungschefs lediglich ein politisches Signal setzen, aber die EU-Außenminister dürften die Maßnahmen in den kommenden Tagen wohl umsetzen. Am heutigen Dienstag kommt in Brüssel der Nato-Rat zusammen. Und auch dort muss Lukaschenko sich auf scharfe Reaktionen einrichten.
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