Es ist sieben Uhr morgens, als der Gerichtsvollzieher die Bewohnerinnen ein letztes Mal zum Verlassen des fünfstöckigen Mietshauses auffordert. Reine Formsache, die Zeichen stehen auf Konfrontation. Freiwillig, das hatten die Frauen klar gemacht, werden sie nicht gehen. In den sozialen Medien hat die linke Szene erbitterten Widerstand angekündigt, Staatsschützer berichten, dass hunderte von Unterstützern aus dem ganzen Bundesgebiet angereist sind. Schon in den Stunden und Nächten zuvor haben die meist schwarz gekleideten Demonstranten randaliert, Müllcontainer und Autos angezündet, ein Amtsgericht angegriffen, eine S-Bahnstrecke lahmgelegt. Auf eine Kaserne der Bereitschaftspolizei hagelte es Steine, Straßenlampen wurden zerstört.
Nun, am Morgen von „Tag X“, muss eine wütende Menge von Ketten martialisch ausgerüsteter Bereitschaftspolizisten zurückgehalten werden. Aus einem Lautsprecher dröhnt die Melodie aus dem Western „Spiel mir das Lied vom Tod“. Mit einer Motorsäge und einem Trennschleifer beginnen Polizisten, die verbarrikadierte Eingangstür zu öffnen. Gleichzeitig klettern Beamte über ein Gerüst in den ersten Stock, und versuchen über ein verrammeltes Fenster in das Haus zu gelangen. Kurz nach der Wende war das Gebäude erstmals besetzt worden, seit 1999 besteht hier eine Wohnform, die sich selbst „anarcha-querfeministisches Hausprojekt“ nennt. Hier leben Frauen, trans- und intersexuelle Menschen zusammen, zeitweise ganz legal.
Nur noch wenige Häuser in Berlin sind besetzt
Im Berlin der Nachwendezeit waren einst rund 130 mehrstöckige Häuser besetzt. Studenten, Künstler und selbst ernannte „Autonome“ waren einfach eingezogen in die leer stehenden Altbauten im Ostteil der Stadt mit ihren oft unklaren Besitzverhältnissen. Im Laufe der Zeit wurden manche der Wohnungen legalisiert, andere Häuser geräumt. Heute gibt es nur noch wenige besetzte Objekte. „Liebig 34“ und der benachbarte Block Rigaer Straße 94, der als Hochburg militanter Linksextremisten gilt, zählen zu den Bekanntesten.
Für die Räumung rechnet die Polizei mit dem Schlimmsten. Ein Szenario wie bei den brutalen Ausschreitungen während des G20-Gipfels in Hamburg vor drei Jahren scheint denkbar. So wurden nach unterschiedlichen Angaben für die Zwangsräumung bis zu 2500 Polizisten aus acht Bundesländern zusammengezogen. Darunter sind Spezialeinheiten, die für den Häuserkampf geschult sind. Höhenretter haben schon in der Nacht vorher die umliegenden Dächer gesichert. Denn die Polizei kann nicht ausschließen, dass die Linksextremen versuchen, die Einsatzkräfte von oben mit Gehwegplatten und Pflastersteinen zu bewerfen.
Ein Unternehmer soll 600.000 Euro für die Liebigstraße 34 bezahlt haben
Die Taktik ist klar: Durch weiträumige Absperrungen und ein massives Polizeiaufgebot sollen Störaktionen und Straßenschlachten verhindert werden. Dies gelingt, nach einigen Minuten hat sich die Polizei Zutritt zu dem Haus verschafft. Schon gegen acht Uhr führen Beamte die ersten Bewohnerinnen aus dem Haus. Nur wenige leisten Widerstand. Manche wohnen offenbar bereits seit 30 Jahren hier, über weite Strecken mit Mietvertrag. Nach mehreren Eigentümerwechseln schloss der Hausverein, den sie gegründet hatten, 2008 einen Pachtvertrag für zehn Jahre. Der Besitzer ist ein großer Immobilienunternehmer, der in der Hauptstadt umstritten ist. 600.000 Euro soll er für das Haus mit den rund 30 Wohneinheiten bezahlt haben.
Als der Pachtvertrag vor zwei Jahren auslief, kam es zum Streit. Baustadtrat Florian Schmidt von den Grünen versuchte zu vermitteln, bot sogar an, das Gebäude über eine städtische Wohnungsgesellschaft zu erwerben, um es den Bewohnerinnen zur Verfügung zu stellen. Der Besitzer sollte ein Ersatzgrundstück bekommen. Doch der Handel scheiterte. Noch vergangenen Sommer sagten Grüne und Linke „der Liebig“ in einer Erklärung „volle Unterstützung“ zu. Schließlich landete die Sache vor Gericht und bei den Terminen ging es teils turbulent zu: Aufgebrachte Frauen zogen sich aus Protest nackt aus und besprühten die Wände des Gerichts mit Parolen. Irgendwann hielt der Besitzer einen wasserdichten Räumungstitel in den Händen.
Die Polizei rechnet mit weiteren Ausschreitungen in Berlin
Die Bewohnerinnen halten den für rechtswidrig, sie argumentieren, der beklagte Verein sei der falsche – das Haus sei quasi untervermietet an eine andere Gruppe. Das linke Lager stilisiert den Konflikt zum Kampf Immobilienhai gegen alternatives Frauenwohnprojekt. Entsprechend aufgeheizt ist die Atmosphäre in der Szene. Doch die Hausbesetzer in Liebig 34 und Rigaer 94 haben in den vergangenen Jahren viele Sympathien im Kiez verloren. Bewohner eines benachbarten Neubaukomplexes, eigentlich ebenfalls ein alternatives Projekt, berichten von Drohungen, beschmierten Wänden und Stahlkugeln, die Fenster durchschlagen. Anwohner fühlen sich terrorisiert, es gab brutale Angriffe auf Makler und Anwälte.
Für die Polizei beginnt im Gebäude ein zähes Ringen. Stockwerk für Stockwerk arbeiten sie sich durch Sperrmüll und Betonelemente, die die Bewohnerinnen als Barrikaden aufgeschichtet haben, brechen schwer gesicherte Türen auf. Zuvor prüfen sie, ob die Türen unter Strom stehen oder ob andere tückische Fallen aufgebaut sind. Offenbar wurden auch Treppen zerstört. Nacheinander bringen die Beamten fast 60 Bewohnerinnen nach draußen. Nachdem deren Personalien festgestellt wurden, dürfen sie ihrer Wege gehen. Protest-Sprechchöre und Flaschenwürfe aus den Reihen der Demonstranten begleiten die Räumaktion. Um 11.26 Uhr meldet die Polizei: „Wir haben das Gebäude in der Liebigstraße 34 gesichert.“
Dass nun Ruhe einkehrt in der Hauptstadt, glaubt niemand. Sicherheitskräfte fürchten, dass es anderswo in der Stadt zu Ausschreitungen kommt, möglicherweise an symbolträchtigen Orten wie dem Brandenburger Tor. Im Internet kursieren seit Wochen Listen mit möglichen Anschlagszielen, darunter Politikerbüros und Polizeiwachen. Die Polizei bereitete sich auf eine unruhige Nacht vor – die militante Hausbesetzerszene hatte weitere Protestaktionen angekündigt.
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