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Lesetipp: Was verbindet die Generation Merkel?

Selbstporträt mit der Kanzlerin: Angela Merkel prägte eine ganze Generation junger Menschen.
Lesetipp

Was verbindet die Generation Merkel?

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    Ich weiß nicht mehr, wann Angela Merkel in mein Leben getreten ist. Irgendwann war sie da, in den Nachrichten, in den Gesprächen meiner Eltern. Eine unauffällige Frau, ernsthaft und ein wenig spröde. Dass sie einmal Bundeskanzlerin werden würde, konnte ich mir damals kaum vorstellen. Ich war 19, die Wahl, die sie schließlich ins Amt brachte, war die erste Bundestagswahl, bei der ich abstimmen durfte. Während Merkel zur Kanzlerin wurde, ging ich studieren, zog ins Ausland und wieder zurück. Ich machte Praktika und fand meinen ersten richtigen Job. In meinem Leben hat sich in dieser Zeit fast alles verändert, doch die Frau im Kanzleramt blieb stets dieselbe.

    Diese Frau kennt jedes Kind: Eine ganze Generation wuchs mit Merkel auf

    Wenn Angela Merkel nach der nächsten Bundestagswahl abtritt, dann wird sie 16 Jahre lang Bundeskanzlerin gewesen sein. Eine kleine Ewigkeit, für sie, vor allem aber für mich und meine Altersgenossen. Wir sind während dieser langen 16 Jahre aufgewachsen und erwachsen geworden. Viele Jüngere kennen keine andere Bundeskanzlerin als Merkel. Was verbindet diese Menschen, die heute ungefähr zwischen 15 und 35 Jahre alt sind, diese „Generation Merkel“, die auch meine ist? Welche Ereignisse haben sie geprägt? Und wie werden sie die Zeit prägen, die nun anbricht?

    Antworten auf diese Fragen findet man bei Klaus Hurrelmann. Der 77 Jahre alte Professor ist der wohl bekannteste Jugendforscher des Landes, seit 20 Jahren ist er Autor der bekannten Shell-Jugendstudie. Was also, Herr Hurrelmann, bewegt die jungen Menschen, die in der Ära Merkel aufgewachsen sind?

    Der Forscher muss etwas ausholen, um diese Frage zu beantworten. In der Soziologie, sagt er, spreche man dann von einer Generation, wenn Menschen einer Altersgruppe in ihren ersten Jahrzehnten ähnliche Erfahrungen machen, ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind. Die immer gleiche Frau im Kanzleramt, der immer gleiche Politikstil – das ist so ein Einfluss, sagt Hurrelmann. Natürlich prägt eine Kanzlerin nicht jede und jeden, aber sie setzt den Ton, gibt die Stimmung vor – und beeinflusst damit vor allem die Jungen und Jüngsten, die das Land in keiner anderen Verfassung kennen.

    16 Jahre Kanzlerschaft: Durch die „Generation Merkel“ geht ein Riss

    Die Kinder der Ära Merkel verbinde also vor allem ein ähnlicher Blick darauf, wie Politik gemacht werde. „Die jungen Menschen sind damit groß geworden, dass ihnen ein bestimmter Politikstil sehr selbstverständlich erscheint“, sagt der Wissenschaftler. Sie würden hauptsächlich das „System Merkel“ kennen: ein ruhiges, moderierendes Vorgehen, den Hang zum Abwarten und zu überlegten Entscheidungen.

    Man kann Angela Merkels Amtszeit also als eine Art Klammer bezeichnen, die meine jungen Jahre und die meiner Altersgenossen zusammenhält. Daneben, erklärt mir Jugendforscher Hurrelmann, gibt es aber noch viele andere Einflüsse, die eine Generation prägen: die Technik, die Wirtschaft, die Gesellschaft. In den 16 Jahren, in denen Merkel regierte, hat sich die Welt so stark verändert, dass die Erfahrungen meiner Altersgruppe völlig anders sind als die von Menschen unter 20. Anders gesagt: Durch die „Generation Merkel“ geht ein Riss, über den noch zu reden sein wird.

    Bildungsforscher Klaus Hurrelmann ist bekannt für die Shell-Jugendstudie.
    Bildungsforscher Klaus Hurrelmann ist bekannt für die Shell-Jugendstudie. Foto: Peter Himsel, Hertie School of Governance/dpa (Archivbild)

    Die Soziologie teilt junge Menschen – grob gesprochen – in jene ein, die zwischen dem Beginn der Achtzigerjahre und Mitte bis Ende der Neunzigerjahre geboren wurden, genannt die Generation Y, und jene, die rund um die Jahrtausendwende und danach zur Welt kamen, die Generation Z. Wer wie ich Teil der Generation Y ist, hat den 11. September bewusst erlebt, vielleicht sogar den Mauerfall. Ich gehöre zur letzten Altersgruppe, die noch ein Leben ohne Internet und Smartphone kennengelernt hat. Als wir junge Erwachsene waren, wurde Barack Obama zum US-Präsidenten gewählt, die Finanzkrise vernichtete zahllose Arbeitsplätze – auch in der unmittelbaren Umgebung. Eine Redaktion, in der ich ein Praktikum machte, wurde kurz darauf aufgelöst. Von Freunden meiner Eltern hörte ich in dieser Zeit zum ersten Mal den Begriff „Kurzarbeit“.

    Generation Y – eine auffällig unpolitische Altersgruppe

    Das Urteil der Wissenschaft über uns ist wenig schmeichelhaft: In der Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2002 prägte Forscher Hurrelmann den Begriff der „Egotaktiker“. Wir seien darauf aus, einen guten Abschluss zu machen, die eigenen Chancen zu verbessern. Im historischen Vergleich, erklärt Hurrelmann, sei die Generation Y eine auffällig unpolitische Altersgruppe. „Streber, keine Rebellen“, wie er es formuliert.

    Für den Experten ist das nicht überraschend: „Wenn eine junge Generation zittern muss, dass sie in einen Beruf kommt, dann konzentriert sie ihre ganze Energie auf eine gute schulische und berufliche Ausbildung.“ Der Kopf sei nicht frei, um an das Gemeinwesen und das Gemeinwohl zu denken.

    Hat er damit recht? Sicher trifft sein Urteil nicht auf jede und jeden zu, aber darum geht es Hurrelmann auch nicht. Mitglieder einer Generation seien nicht alle gleich, sagt er, aber durch eine ähnliche Prägung würden sie ähnliche Wege gehen und ähnliche Entscheidungen fällen. Und wenn ich darüber nachdenke, dann erkenne auch ich diese Gemeinsamkeiten: Nur wenige meiner Freunde waren in ihrer Jugend auf Demonstrationen, Politik war fast nie ein Thema zwischen uns, ist es in vielen Runden noch immer nicht.

    Die Generation Z geht für ihre Wünsche und Forderungen auf die Straße

    Mit der Zeit, erklärt mir Hurrelmann, verschiebt sich allerdings etwas. Wer nach der Jahrtausendwende geboren wurde, wächst unter anderen Bedingungen auf. Auch die Mitglieder der Generation Z erleben prägende Ereignisse, die Terrorangst, die Flüchtlingskrise, den Kampf gegen den Klimawandel. Aber trotz aller Krisen werden viele von ihnen in einer Umgebung groß, die Hurrelmann als „heile Welt“ bezeichnet. Die Wirtschaft boomt, viele Familien sind abgesichert und die Aussichten auf eine Ausbildung und einen Job oft hervorragend.

    Wer so aufwachse, müsse sich weniger um sich selbst kümmern, sagt der Forscher. Der Blick sei frei für das Wesentliche. Die Mitglieder der Generation Z engagieren sich deutlich mehr als ihre Vorgänger, tragen ihre Wünsche und Forderungen ins Internet und auf die Straße. Hurrelmann findet diese Altersgruppe mindestens außergewöhnlich. „Dass von einer jungen Generation eigene Akzente kommen, das haben wir lange nicht mehr gehabt.“

    Angela Merkels Botschaft an uns: Wird schon alles gut ausgehen

    Hier zeigt sich der Riss, der durch die „Generation Merkel“ geht: Die älteren, eher Unpolitischen auf der einen Seite, die jüngeren Engagierten auf der anderen. Oder, um es mit Hurrelmanns plakativer Zuschreibung zu sagen: Hier die Streber, dort die Rebellen.

    Beide sind auf ihre Art Kinder der Ära Merkel. Wir Älteren, weil viele von uns zufrieden waren mit einem Rückzug ins Private. Einem neuen Biedermeier, wie die Amtszeit Merkels oft genannt wird. Meine Generation habe „eine Regierung erlebt, die ihr das politische Denken und die politische Mitarbeit abnimmt“, erläutert Hurrelmann. Die Kanzlerin habe stets vermittelt, sie regele das schon. Das sei meinen Altersgenossen, den „Egotaktikern“, nur entgegengekommen.

    Angela Merkel: Meilensteile im Leben einer Kanzlerschaft

    Frau Bundeskanzler?

    Der bayerische Politiker-Parodist Wolfgang Krebs beschäftigte sich kürzlich mit der Frage „Kann eigentlich auch ein Mann Bundeskanzlerin werden?“ Da sieht man mal, wie 16 Jahre eine Gesellschaft prägen können. Schließlich ist es zu Beginn der Ära von Angela Merkel genau anders herum. Damals zucken die Deutschen noch unwillkürlich beim Feierabendbier zusammen, wenn eine Meldung in der „Tagesschau“ mit den Worten „Bundeskanzlerin Angela Merkel …“ beginnt. Am 22. November 2005 wird die damals 51-Jährige vereidigt – und tatsächlich fragen sich die Deutschen, wie man die neue Regierungschefin nun ansprechen wird. „Frau Bundeskanzler“? Die Gesellschaft für deutsche Sprache sorgt umgehend für Klarheit und macht „Bundeskanzlerin“ zum Wort des Jahres.

    Wie im Märchen

    Merkels Zeit im neuen Amt beginnt märchenhaft. Im Sommer 2006 berauschen sich die Deutschen an der Fußball-Weltmeisterschaft daheim – und an einer völlig neuen, unverkrampften Art, das eigene Land zu feiern. Die Welt staunt über die schwarz-rot-goldene Lebensfreude des deutschen Sommermärchens, das für die Fußballer zwar kein Happy End hat, aber das Ansehen der Bundes republik dauerhaft verbessert. Mittendrin eine Kanzlerin, die auf der Tribüne etwas unbeholfen, aber dafür höchst ungekünstelt die Arme hochreißt und nach dem Spiel schon mal in der Kabine auftaucht, um sich mit Poldi und Schweini fotografieren zu lassen. Merkel spielt die Fußball-Anhängerin nicht nur für die Kameras, sie interessiert sich tatsächlich dafür. Dass ihr Herz für den FC Bayern München schlägt, hängt sie aber lieber nicht an die große Glocke.

    Alltagsarbeit

    Weniger Euphorie löst eine der ersten großen politischen Entscheidungen ihrer Kanzlerschaft aus. Die Deutschen sollen länger arbeiten. Mit ihrer Entscheidung im Jahr 2007, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre anzuheben, will die Große Koalition den Anstieg der Beiträge bremsen. Heute wieder aktuell.

    Angst um die Ersparnisse

    Im Herbst 2008 beginnt für die Bundeskanzlerin ihre erste von vielen Krisen. In den USA bricht ein unheilvolles System aus faulen Krediten in sich zusammen. Die „Subprime-Krise“ treibt Bankriesen wie Lehman Brothers in die Pleite und vernichtet innerhalb weniger Tage Milliardenwerte an den Börsen. Das weltweite Finanzsystem steht am Rande des Abgrundes. Millionen Kleinanleger sind ruiniert, Hochstapler fliegen auf. Und die Deutschen haben Angst um ihre Ersparnisse.

    So entschlossen wie selten in ihrer Kanzlerschaft geht Angela Merkel in die Offensive. Gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück tritt sie vor die Kameras und verspricht den Bürgerinnen und Bürgern, der Staat garantiere dafür, dass ihr Geld sicher ist. Ob sie dieses Versprechen bei einem Kollaps des Bankensystems hätte halten können, ist mehr als fraglich. Doch mit ihrem Versprechen verhindern Merkel und Steinbrück, dass die Menschen ihr Geld panikartig von Konten und Sparbüchern holen und eben jenen drohenden Kollaps herbeiführen.

    Die klammen Griechen

    In der Folge des Bankendesasters geraten auch immer wieder Staaten in finanzielle Schieflage. Aus der Finanzkrise entstehen die Schuldenkrise und die Euro-Krise. Die „klammen Griechen“ werden zum Symbol für katastrophale Haushaltspolitik. Lange, bevor der Brexit Europa in Turbulenzen stürzen wird, geht es um den Grexit. Im Streit um einen Austritt Griechenlands aus dem Euro wird die deutsche Kanzlerin zur Hassfigur – Nazi-Vergleiche inklusive. In langen Verhandlungsnächten in Brüssel ringen die Staats- und Regierungschefs um gigantische Rettungsschirme – und die Bedingungen für solche Hilfsgelder. Die Zukunft der noch jungen gemeinsamen Währung steht auf dem Spiel. Auch Deutschland stürzt in eine tiefe Rezession. Mit milliardenschweren Konjunkturpaketen hält die Bundesregierung dagegen. Berühmt wird die sogenannte Abwrackprämie, die den Deutschen den Kauf eines neuen Autos schmackhaft machen soll.

    Wieder Wahl

    2009 gewinnt Angela Merkel das Duell gegen SPD-Herausforderer Frank-Walter Steinmeier. Allerdings kassiert sie das schlechteste Ergebnis aller Zeiten für die Union. Zur zweiten Amtszeit verhilft ihr eine starke FDP, mit deren Chef Guido Westerwelle sie ein freundschaftliches Verhältnis verbindet.

    Der GAU

    Als Naturwissenschaftlerin macht Merkel nüchternen Pragmatismus zum Regierungsprinzip. Wir prüfen alte Antworten und geben neue, heißt ihr Prinzip. Dass diese neuen Antworten oftmals am Markenkern von CDU und CSU kratzen, nimmt sie in Kauf. Wenn ihre Gegner der Kanzlerin politische Beliebigkeit attestieren, beziehen sie sich neben dem Ende der Wehrpflicht oder der „Ehe für alle“ immer auch auf eine Katastrophe, die im März 2011 in Japan stattfindet.

    Obwohl die schwarz-gelbe Regierung gerade erst beschlossen hatte, die deutschen Kernkraftwerke länger laufen zu lassen als geplant, dreht sich der Wind nach dem GAU von Fukushima. Merkel ruft die Energiewende aus und verkündet, schon Ende 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen. „Die Ereignisse in Japan lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind“, sagt Merkel. Die Energiekonzerne toben und kämpfen am Ende erfolgreich um Milliardenentschädigungen.

    Abhören unter Freunden

    Mit US-Präsident Barack Obama pflegt die Kanzlerin ein fast herzliches, auf jeden Fall vertrauensvolles Verhältnis – das im Sommer 2013 auf eine harte Probe gestellt wird. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllt, wie der amerikanische Auslandsgeheimdienst NSA die eigenen Verbündeten ausspioniert hat. Es gibt Spekulationen, die US-Schnüffler könnten sogar Merkels Handy abgehört haben. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA stehen vor einer ernsten Belastungsprobe. „Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht“, lässt Merkel ihren Sprecher klarstellen.

    Höhepunkt

    Die meisten Deutschen fühlen sich inzwischen recht gut aufgehoben bei ihrer Kanzlerin, die eine Krise nach der anderen so unaufgeregt abarbeitet, dass andere Nationen nur staunen können. Bei der Bundestagswahl 2013 holt die Amtsinhaberin mit 41,5 Prozent der Stimmen ein Ergebnis, das beinahe an alte Bonner Zeiten erinnert und schrammt nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. Weil die von Merkel schier erdrückte FDP allerdings aus dem Bundestag fliegt, geht ihr der Koalitionspartner verloren. Es kommt zu einer Neuauflage der Großen Koalition, die damals ihren Namen noch verdient hat.

    Weltmeisterin

    Die Karrieren von Angela Merkel und Joachim Löw verlaufen nicht nur in ihrer Dauer parallel. Bundeskanzlerin und Bundestrainer befinden sich auch nahezu zeitgleich auf dem Zenit ihres Schaffens und ihrer Popularität. Im Sommer des Jahres 2014 tummelt sich auf brasilianischen Fußball-Tribünen allerhand Politprominenz – auch Merkel jettet um die Welt, um die Nationalmannschaft live zu sehen. Heute gäbe es dafür womöglich einen Shitstorm (nichts Wichtigeres zu tun? Und das alles mit unseren Steuergeldern?), damals jedoch surfen Merkel und Deutschlands Fußballer auf einer Sympathiewelle bis zum Weltmeistertitel. Besser wird es nicht. Die Deutschen entfremden sich in den folgenden Jahren von ihrem Nationalteam – und von ihrer Kanzlerin.

    Wir schaffen das

    Im nächsten Jahr werden sich die Menschen am meisten über einen Satz streiten, der doch eigentlich ganz und gar positiv klingt: „Wir schaffen das.“ Drei Worte, die Zuversicht vermitteln sollen – und Angst provozieren. Drei Worte voller Emotion – aus dem Munde einer Kanzlerin, der Emotionen bislang eher unheimlich erschienen. Merkel will ein Deutschland, das Menschen in Not hilft, das ihnen Schutz bietet. Und sie unterschätzt, was diese Worte auslösen. Wenige Wochen zuvor hatte man in der SPD noch darüber nachgedacht, ob man überhaupt jemanden gegen die unschlagbare Merkel ins Rennen sollte. Nun schlagen der Kanzlerin plötzlich Wut und Abneigung entgegen.

    Die Bilder von hunderttausenden Flüchtlingen, die sich nach Deutschland aufmachen, spalten die Republik und lassen rechts von CDU und CSU eine Partei erstarken, die mit der Stimmung Stimmen macht. Erstmals in ihrer Zeit als CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin gerät Merkel aus den eigenen Reihen unter Beschuss. Mit CSU-Chef Horst Seehofer wird ausgerechnet der Mann zu ihrem härtesten Rivalen, der vor der Flüchtlingskrise noch davon gesprochen hatte, mit dieser Kanzlerin sei bei der nächsten Bundestagswahl die absolute Mehrheit drin. Beim CSU-Parteitag stellt er Merkel bloß (Stichwort Schulmädchen), er spricht von einer „Herrschaft des Unrechts“ und meint damit die Politik der eigenen Bundesregierung.

    Letzter Sieg

    Merkel hat ihre Politik nie besonders gut erklärt. Solange ihr die Deutschen vertrauten, störte das keinen besonders. Doch nun, da viele sich Sorgen machen, ob das Land so viele Flüchtlinge integrieren kann, wird ihr diese Sprachlosigkeit zum Verhängnis. Die Bundestagswahl 2017 markiert eine Zeitenwende. Die in Teilen rechtsextreme AfD zieht erstmals ins Parlament ein. Die Union stürzt auf den niedrigsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik. Dennoch bleibt sie klar stärkste Kraft. Und zur Wahrheit gehört auch, dass viele Menschen gerade wegen Merkel CDU und CSU gewählt haben.

    Dennoch schmeckt dieser letzte Wahlsieg bitter. Merkel geht schwer angeschlagen in die vierte Amtszeit. Bei Landtagswahlen kassiert die CDU eine Niederlage nach der anderen. „Merkel muss weg“, brüllen nun nicht mehr nur die Wutbürger im Osten. Auch in der eigenen Partei macht sich eine gewisse Merkelmüdigkeit breit. Verpasst die ewige Kanzlerin das, was ihr viele Beobachter zugetraut hatten: einen selbstbestimmten Abgang von der politischen Bühne? Kein Bundeskanzler vor ihr ging freiwillig, alle wurden abgewählt, sahen sich zum Rücktritt gezwungen oder wurden gestürzt. Passiert Merkel das auch?

    Anfang vom Ende

    Ein Jahr nach der Bundestagswahl beginnt der Rückzug auf Raten. Nach einem miesen Ergebnis der CDU bei der Landtagswahl in Hessen 2018 kündigt sie an, beim nächsten Parteitag nicht mehr für das Amt der Parteivorsitzenden zu kandidieren. Außerdem erklärt sie, dass am Ende der Legislaturperiode 2021 auch im Kanzleramt Schluss sein wird. So nachdenklich, so persönlich hat man Merkel selten gesehen. Die Frage, ob eine derart angezählte Regierungschefin wirklich noch so lange im Amt bleiben kann, steht im Raum. Zumal in der zweiten Reihe umgehend der Kampf um das Erbe beginnt. Es wird ein Drama in zwei Akten. Im ersten Anlauf setzt sich Merkels Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer gegen Merkels Erzrivalen Friedrich Merz durch. Doch die Ära AKK wird nicht von langer Dauer sein. Was auch daran liegt, dass sich die neue Parteichefin im Schatten der Kanzlerin nicht entfalten kann. Nach zwei Jahren braucht die CDU schon wieder einen neuen Chef. Diesmal setzt sich Armin Laschet durch, der auch im Kanzleramt in Merkels Fußstapfen treten will.

    Die Pandemie

    Dass die Ära Merkel nicht einfach ihrem Ende entgegen plätschert, wie viele prognostiziert hatten, liegt an einem Virus, das im wahrsten Sinne des Wortes die Welt erobert. Anfang des Jahres 2020 breitet sich eine Pandemie aus, deren Ausmaß alle bisherigen Krisen, die Merkel zu meistern hatte, in den Schatten stellt. Dieses Mal geht es nicht um Geld, es geht um Leben und Tod. Und die Kanzlerin tut das, was oft vergeblich von ihr gefordert worden war, sie übernimmt die Führung. In einer Rede an die Nation stimmt sie das Land auf eine harte Zeit ein – womöglich ohne zu ahnen, wie einschneidend diese Krise wirklich sein wird. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, appelliert sie an die Deutschen. „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“

    Das Virus kostet allein in Deutschland mehr als 100.000 Menschen das Leben. Der Alltag kommt zum Stillstand, Geschäfte, Gastronomie, Schulen und Kindergärten schließen. Und in Merkel kommt wieder die Naturwissenschaftlerin durch, die Tabellen und Diagramme studiert, die Risiken abwägt und zur großen Mahnerin wird. Zu Beginn der Pandemie versammeln sich die meisten Deutschen hinter der Kanzlerin, die schon als abgeschrieben galt. Mit ihrer sachlichen Art gibt sie den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl, dass das Land auch diese Herausforderung meistern wird. Während in den USA, Großbritannien oder Brasilien großmäulige Populisten die Gefahren ignorieren, führt Merkel – in unerwarteter Allianz mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder – das „Team Vorsicht“ an. Ihre Beliebtheitswerte steigen rasant und manch einer in der Union fragt sich, ob das mit dem Abschied aus dem Kanzleramt nicht doch ein bisschen verfrüht war. Doch je länger die Pandemie dauert, desto dünner werden die Nerven. Und so wird es Merkel kaum bereuen, der Versuchung nicht nachgegeben zu haben, doch noch einmal anzutreten.

    Das Ende

    Am 26. September wählten die Deutschen einen neuen Bundestag. Erstmals hat keiner der Kanzlerkandidaten einen Amtsbonus. Angela Merkel hat es doch geschafft, aus freien Stücken ihre Karriere zu beenden. Ihr Nachfolger ist SPD-Politiker Olaf Scholz. Die Deutschen werden sich wohl erst wieder an die Formulierung „Herr Bundeskanzler“ gewöhnen müssen. (msti)

    Tatsächlich hat Angela Merkel auch mir immer eine gewisse Sicherheit gegeben, ein Es-wird-schon-alles-gut-Gefühl. Da war ihr Versprechen in der Finanzkrise, „dass alle Einlagen sicher sind“. Und natürlich der Satz, der mit ihr in die Geschichte eingehen wird: „Wir schaffen das.“ Für mich war es mit Merkel ein wenig wie mit dem Personal an Bord eines Flugzeugs, das durch Turbulenzen fliegt: So lange diejenigen, die davon Ahnung haben, keine Panik verbreiten, wird schon alles gut ausgehen.

    Wie wird die Generation Merkel die Zukunft prägen?

    Genau wie meine Altersgruppe sind aber auch die Jüngeren Geschöpfe ihrer Zeit. Während sich meine Generation im Privaten eingerichtet hat, protestieren sie umso lustvoller. Der Entpolitisierung setzen sie ihr Engagement mit einer solchen Leidenschaft entgegen, als müssten sie aufholen, was wir Älteren versäumt haben. Ihr Gegner ist nicht Angela Merkel selbst, aber der Politikstil der Kanzlerin, das Wir-regeln-das-schon, mit dem sie aufgewachsen sind.

    Wie werden sie also die Zeit prägen, die nun anbricht? Klaus Hurrelmann geht davon aus, dass besonders die sehr jungen Menschen der Politik ihren Stempel aufdrücken werden. Viele von ihnen seien durch das umweltpolitische Engagement geprägt, hätten starke ethische Maßstäbe. „Das werden sie von sich aus in die politische Auseinandersetzung ganz massiv hineintragen“, prognostiziert der Wissenschaftler. Überhaupt traut Hurrelmann den jüngsten Mitgliedern der „Generation Merkel“ viel zu. Er ist überzeugt: Der Klimaschutz ist für die junge Generation erst der Anfang. „Sie trainieren sich an diesem großen politischen Thema – dann nehmen sie sich auch alles andere vor.“

    In unserem Podcast "Augsburg, meine Stadt" spricht Mitgründerin Janika Pondorf über die Anfänge des Augsburger Klimacamps, kalte Winternächte und das Leben im Camp.

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