Der Bundestagspräsident schlug Alarm. Eine Reform des Wahlrechts sei unabdingbar, um eine erhebliche Vergrößerung des Parlaments zu verhindern, warnte Norbert Lammert. So hatten gerade einmal vier Überhangmandate zu weiteren 29 Ausgleichsmandaten geführt, und im Bundestag saßen auf einmal nicht 598, sondern 631 Abgeordnete.
Das war vor mehr als drei Jahren, im Oktober 2013, kurz nach der letzten Bundestagswahl. Doch geschehen ist seitdem nichts. Obwohl Lammert unermüdlich die Fraktionen zum Handeln aufforderte und sogar ein eigenes Konzept vorlegte, verhallten seine Rufe bislang weitgehend ungehört. Und das Zeitfenster, das für ein derart kompliziertes Gesetzgebungsverfahren notwendig ist, wird immer kleiner. Wenig spricht dafür, dass sich die vier im Bundestag vertretenen Parteien noch auf eine Neuregelung einigen können.
Dabei wissen alle Beteiligten, dass sich bei den Wahlen im nächsten Herbst die Situation dramatisch zuspitzen könnte. Sollten in den nächsten Bundestag auch die FDP und die AfD einziehen, säßen nicht nur sechs statt vier Fraktionen im Parlament, sondern die Zahl der Abgeordneten würde möglicherweise auch auf bis zu 700 steigen. Nach Modellrechnungen könnten CDU/CSU 25 und die SPD zwei Überhangmandate erhalten, weil sie mehr direkt gewählte Abgeordnete haben, als ihnen eigentlich nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Das hat zur Folge, dass AfD und Linke jeweils 19, die Grünen 17 sowie SPD und FDP je neun Ausgleichsmandate zugesprochen bekämen, damit die Sitzverteilung im Parlament exakt dem Zweitstimmenergebnis der Parteien entspricht.
Jede Partei hat das Recht auf die Mandate, die ihr zustehen
An Vorschlägen, die extreme Aufblähung zu verhindern, herrscht kein Mangel. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem jüngsten Urteil zum Wahlrecht festgelegt, dass bis zu 15 Überhangmandate akzeptabel seien und nicht ausgeglichen werden müssten. Norbert Lammert seinerseits plädiert für eine gesetzlich festgeschriebene Obergrenze von 630 Abgeordneten. Und die SPD schlägt vor, nicht mehr die Bevölkerungszahl in einem Bundesland als Berechnungsgrundlage zu verwenden, sondern nur noch die Zahl der Zweitstimmen, die in diesem Land für Parteien abgegeben wurde, die die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen haben.
Doch alle Modelle haben einen Haken – es gibt immer Verlierer und Benachteiligte. Jede Festlegung auf eine Obergrenze hat zur Folge, dass die Zusammensetzung des Parlaments den Wählerwillen nicht exakt wiedergibt. Keine Partei will sich aber freiwillig selber schlechter stellen und von sich aus auf die Mandate verzichten, die ihr zustehen. Der Einwand von SPD, Grünen und Linken, von einer Begrenzung profitierten ausschließlich CDU und CSU, die im Bundestag deutlich stärker vertreten wären als es ihrem Wahlergebnis entspricht, ist nicht von der Hand zu weisen. Im Extremfall könnte sogar die Situation eintreten, dass Angela Merkel nur mithilfe der Überhangmandate eine Mehrheit im Bundestag zustande bringt, die sie sonst nicht hätte.
In dieser Woche unternehmen die Fraktionen einen neuen Anlauf, einen Kompromiss zu finden, der den großen wie den kleinen Parteien entgegenkommt. Doch die Chancen stehen schlecht. Insofern spricht viel dafür, das Wahlrecht so zu lassen wie es ist – gerecht und verfassungskonform. Kein Ergebnis ist besser als ein schlechtes. Zur Demokratie gehört die Respektierung des Wählerwillens. Auch wenn das Parlament dadurch größer wird. Das ist der Preis einer freien Wahl und eines Wahlrechts, das allen die gleiche Chance gibt.