Gott hat die Lausitz geschaffen, aber der Teufel die Kohle darunter. (Lausitzer Sprichwort)
Der Boden unter Johannes Kapelles Füßen beginnt zu bröckeln. Er steht am Abgrund, dunkle Wolken ziehen auf. Vor ihm: Einer der monströsen Bagger, die man nur in Kohlerevieren sieht. Hinter ihm: die Silhouette der Kirche von Proschim. Seine Heimatkirche, in der er regelmäßig die Orgel spielt.
Es sind animierte Szenen, die den 77-Jährigen, den „Opa ohne Lobby“, am Ende des gleichnamigen Films im Internet in einem Untergangsszenario zeigen. Proschim wird abgebaggert, wegen der Braunkohle, die darunter liegt.
In zwölf Jahren wird das Dorf Proschim in Brandenburg verschwunden sein
Zusammen mit jungen Umweltaktivisten hat er den Film gedreht, um die Welt zu warnen: So wird es aussehen, wenn der Ort in weniger als zwölf Jahren aus der brandenburgischen Lausitz verschwindet und mit ihm seine Bewohner, seine Vereine, seine Geschichte.
Mehr als 700 Jahre ist das Dorf im Landkreis Spree-Neiße alt. Schaufel um Schaufel haben sich die Kohlebagger an Proschim herangegraben. Jetzt rückt der Tag näher, an dem die etwa 340 Bewohner das Schicksal ihrer früheren Nachbarn aus Jessen, Wolkenberg und Haidemühl teilen sollen.
Wo die Kirche stand, entsteht eine Mondlandschaft
Erst siedelt der schwedische Stromkonzern Vattenfall die Bewohner um, dann kommen die Bagger. Wo einstmals Kirche, Gasthaus und Vereinsheim standen, entsteht eine Mondlandschaft am Südrand der Niederlausitz.
Anfang Juni hat die brandenburgische Regierungskoalition von SPD und Linken die Pläne des Energieriesen abgesegnet. Im Bericht der Landesplanungsabteilung heißt es: „Der Plansatz (...) impliziert erhebliche Beeinträchtigungen von Umweltbelangen und des sozialen Gefüges für die von der Umsiedlung betroffenen Menschen.“ Doch eine Alternative bestehe nicht.
Proschim und das südliche Wohngebiet des Hauptortes Welzow sollen dem Bergbau weichen, rund 800 Menschen ihr Zuhause verlieren. Und das, obwohl Proschim mit Biogasanlage und Windpark sich allein mit Ökostrom versorgen kann. Ein Öko-Dorf weicht der Braunkohle.
Der Ausstieg aus der Atomkraft befeuert die Braunkohlekraftwerke
„Welzow-Süd II“ sei eines der letzten rentablen Abbaugebiete im größten Kohlerevier der ehemaligen DDR, argumentieren Vattenfall und die Regierung. 200 Millionen Tonnen Braunkohle will der Konzern von 2027 bis 2042 dort aus der Erde holen.
Nicht zuletzt eine Folge politischer Entscheidungen: Der Ausstieg aus der Atomkraft und der Rückzieher der Bundesregierung vor einer intensiven Förderung erneuerbarer Energien befeuern die Braunkohlekraftwerke in Brandenburg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen. Die Brückentechnologie Kohlestrom erlebt gerade – ungeachtet der Klimaschutzziele – ihre letzte Blütezeit.
Für Vattenfall ist das ein Milliardengeschäft. In Schweden hingegen baut der Konzern auf erneuerbare Energieträger – die Kohle aus der Lausitz finanziert einen großen Teil der Kosten.
Doch die Region profitiert auch von der Kohle: Etwa 25 000 Arbeitsplätze sind vom Tagebau abhängig. Dass Arbeiter in der Kohleindustrie gut verdienen, ist in der Lausitz kein Geheimnis. Auch den umgesiedelten Orten soll es finanziell besser gehen als jetzt.
Einerseits zahlt Vattenfall für die alten Grundstücke in den meisten Fällen mehr als den Marktpreis in der unter Abwanderung leidenden Region. Nach der Kohle-Abbauphase verspricht der Konzern blühende Landschaften. Wo Gruben sind, soll in Zukunft ein Seenland entstehen. Millionen lässt sich Vattenfall die Renaturierung kosten. Ganz ohne Erdrutschungen, wie in den alten DDR-Abbaugebieten, die heute noch regelmäßig Häuser unter sich begraben.
136 Orte wurden in den letzten 100 Jahren in der Lausitz abgebaggert
Für Vattenfall beginnt die neue Zeitrechnung der Lausitz, wenn die Kohle in Geld verwandelt ist. Es könnte also losgehen – wären da nicht die Menschen, denen ihre Heimat wichtiger ist als alle Zahlen, die für den Abbau sprechen.
Für Johannes Kapelle sind das alles Rechnungen, in denen sich an keiner Stelle eine menschliche Komponente findet. Er lehnt seine Krücke an einen Stuhl, beginnt zu reden. Er spricht nicht von Wirtschaftlichkeit, sondern erzählt von seiner Heimat, als hätte er ein bislang überlesenes Kapitel der Bibel entdeckt.
Er berichtet von den Volksgruppen der Sorben und Wenden, die in alten Liedern ihre „heiligen Fluren“ besingen. Doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben sie diese heiligen Fluren an den Staat oder an Unternehmen verkauft oder wurden enteignet. Der Energiekonzern errichtete abseits des Tagebaus neue Siedlungen, lockte mit Geld und finanzierte Kunstobjekte, um die verschobene Heimat so angenehm wie möglich zu gestalten.
Der gläubige Organist Johannes Kapelle spricht vom „Gott Kohle“, der die alten Werte der sorbischen Gemeinden zu großen Teilen durch Gebote der Wirtschaftlichkeit ersetzt hat. An die Verheißungen Vattenfalls glaubt er nicht. Dafür habe er zu viel „totes Land“ gesehen, direkt in seiner Nachbarschaft.
136 Orte wurden in den letzten 100 Jahren in der Lausitz ganz oder teilweise abgebaggert, etwa 30 000 Menschen räumten ihr Zuhause. Die Kohleförderung der DDR war 1989 allein in diesem Kohlerevier mit gut 195 Millionen Tonnen noch mehr als dreimal so hoch wie im Jahr 2012. Nicht selten verfrachtete die Ost-Regierung die Bewohner eines Ortes geschlossen in ein Hochhaus.
Der alte Organist will nicht aus seinem Dorf weichen
Auch Proschim sollte noch vor der Wende weichen. Doch dann kam die Wiedervereinigung und die Bewohner schöpften Hoffnung, dass der Tag der Umsiedlung niemals kommen werde. Doch diese Hoffnung schwand schnell. Bereits 1992 endet die Geschichte Wolkenbergs mit dem Kohleabbau. Zwölf Jahre später die von Alt-Haidemühl, das heute als Haidemühl weiterexistiert, sechs Kilometer entfernt in neuen Häusern: „Sozialverträgliche Umsiedlung“ heißt es im Fachjargon.
Wohnhaus, Scheunen, Tor und Holzlager umschließen den sorbischen Hof Kapelles, der wie eine kleine Festung aussieht. Für ihn steht fest: Er werde nicht weichen. Komme, was wolle. „Nicht wenige Proschimer haben bereits mehr als eine Umsiedlung hinter sich“, erzählt er.
Auf der anderen Straßenseite haben Nachbarn gelbe Kreuze im Garten und an der Haustür befestigt. Es sind Zeichen für den Widerstand gegen die Umsiedlung, wie sie andernorts vor wenigen Jahren noch für den Widerstand gegen die Atomkraft standen.
Vor einem der markierten Häuser steht eine 72-jährige Frau: „Hier bei uns hat man nicht mal unter der Erde seine Ruhe“, sagt sie. Auch die Toten treten bei der Umsiedlung eine Reise an – zu ihrer vermeintlich allerletzten Ruhestätte auf einem benachbarten Friedhof. Darunter auch ihre vor Jahren verstorbene Mutter.
Sie weiß, dass nicht jeder ihrer Meinung ist, dass man um den Ort bis zuletzt kämpfen müsse. Dafür gebe es zu viele „Zugezogene“ und „Gekaufte“ in Proschim. Es herrsche Unsicherheit und Misstrauen. Nicht jeder Proschimer ist mit der Abwehrhaltung gegenüber Vattenfall einverstanden, will Verhandlungsangebote des Konzerns ungehört ausschlagen.
Der neue Vorsitzende des Ortsbeirats arbeitet bei Vattenfall
An diesem Abend treffen sich die Proschimer in ihrem Gemeindehaus zur Ortsbeiratssitzung. Wenige Tage zuvor hatten sie gewählt. Eigentlich nichts Besonderes, wäre die abgewählte, langjährige Vorsitzende nicht eine der engagiertesten Widerständlerinnen.
Ihr Nachfolger arbeitet bei Vattenfall. Das Gespräch mit dem Energiekonzern solle möglichst bald gesucht werden, sagen er und die „Wählergruppe Proschim“. Das Wahlergebnis spricht für sie. Proschim sucht das Gespräch.
Ansonsten geht es in der Sitzung um alltägliche Probleme wie die hohen Brennnesseln an einem Wiesenstück und um Koniferen, die zu weit in die Straße hineinwachsen. Der Fahrradweg nach Alt-Haidemühl müsse saniert werden. Auf Außenstehende wirkt das grotesk. Doch das Leben geht vorerst seinen gewohnten Gang im Braunkohleort Proschim.