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Kurdenkonflikt: Und plötzlich ist überall nur noch Hass in der Türkei

Kurdenkonflikt

Und plötzlich ist überall nur noch Hass in der Türkei

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    Gesichter voller Wut: Diese Männer gingen in Istanbul nach Anschlägen auf die Straße, um gegen die kurdische Rebellenorganisation PKK zu demonstrieren.
    Gesichter voller Wut: Diese Männer gingen in Istanbul nach Anschlägen auf die Straße, um gegen die kurdische Rebellenorganisation PKK zu demonstrieren. Foto: Ozan Kose, afp

    Noch am Mittag schien die Welt in Ordnung zu sein in Kirsehir, einer verschlafenen Kleinstadt genau in der Mitte der Türkei. In der Schulstraße betrachten Mütter die bunten Kinder-Rucksäcke, die von der Buchhandlung zum Schulbeginn angeboten werden. Aus einer Imbissbude duftet es nach Fleischbällchen, die Konditorei daneben präsentiert ihre Kuchen. Doch kurz vor Sonnenuntergang bricht in

    Um 19 Uhr beginnt zeitgleich in allen 81 Provinzen der Türkei die Nacht des Schreckens, die das deutsche Wort „Kristallnacht“ im türkischen Wortschatz verankert. Für diese Uhrzeit hat der Jugendverband der Nationalistenpartei MHP zu landesweiten Protesten gegen die Anschläge der kurdischen Rebellenorganisation PKK aufgerufen, denen in den letzten drei Tagen mindestens 30 Polizisten und Soldaten zum Opfer gefallen sind.

    Der Konflikt mit der PKK eskaliert

    In Kirsehir beginnen die Proteste mit einem Sturm von 4000 wütenden Menschen auf das Kreisbüro der Kurdenpartei HDP, die mit der PKK liiert ist. „Nieder mit der PKK“, skandieren die fahnenschwenkenden Demonstranten, begleitet von einem hupenden Autokonvoi. Rasch hat die Menge das Gebäude gestürmt, das Schild mit dem Parteiemblem zertrümmert und eine riesige türkische Fahne aufgehängt – zu rasch, um den aufgestauten Hass der Randalierer zu befriedigen. Einen Augenblick hält der Mob inne – dann dreht er sich um und greift die Geschäfte auf der anderen Straßenseite an.

    Das sind die Kurden

    Die Kurden sind ein Volk von rund 25 bis 30 Millionen Menschen ohne eigenen Staat. Ihr Siedlungsgebiet im Nahen Osten ist mit rund 500.000 Quadratkilometern etwa so groß wie Frankreich und erstreckt sich über mehrere Staaten.

    Die meisten Kurden leben in der Türkei (mindestens 12 Millionen), im Irak (knapp 5 Millionen, im Iran (rund 5,5 Millionen) und in Syrien (bis zu 1,3 Millionen). Weitere Kurden siedeln in Armenien und Aserbaidschan.

    In der Türkei kämpft die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit 1984 mit blutigen Angriffen und Bombenanschlägen für einen eigenen Staat oder zumindest für Autonomie. In dem Konflikt starben bislang bis zu 40.000 Menschen.

    Die EU stuft die PKK als Terrorgruppen ein. Im Zuge der EU-Beitrittsgespräche gab Ankara den Kurden mehr kulturelle Rechte, Zugeständnisse für mehr Autonomie blieben aber aus. Immer wieder kommt es zu Angriffen kurdischer Extremisten auf türkische Sicherheitskräfte.

    Der Nordirak gilt als PKK-Rückzugsgebiet. Mehrfach griff die türkische Armee dort vermutete Kurdenstellungen an. Seit 1991 ist die Region weitgehend autonom. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein 2003 wurde offiziell der Zusammenschluss der drei Nordprovinzen zur "Autonomen Region Kurdistan" erklärt.

    Der Präsident und die Regierung der Autonomen Region Kurdistan" haben ihren Sitz in der Stadt Erbil. In den Schulen wird auf kurdisch unterrichtet, die Region hat eine eigene Flagge und eigene Streitkräfte. Die Truppen der Peschmerga sollen etwa 130.000 bis 200.000 Mann zählen.

    Die syrischen Kurden leben überwiegend im Norden des Landes entlang der Grenze zur Türkei. Teile der Kurden schlossen sich dem Widerstand gegen Präsident Baschar al-Assad an, andere halten zu ihm. Seit 2014 kämpfen kurdische Volksschutzeinheiten (YPG) vorrangig gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS).

    Die Volksschutzeinheiten sind mit der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) verbunden. Beide stehen wiederum der kurdischen PKK nahe.

    Kurdische Geschäfte seien das, ruft jemand, und da gibt es kein Halten mehr. Klirrend zerbersten die Scheiben der Buchhandlung, die bunten Kinder-Rucksäcke landen auf der Straße – dann fliegen Brandsätze in den Laden, in dem Buchhändler Sait Akilli mit zwei Mitarbeitern und seinem Onkel ausharrt. Von den auflodernden Flammen hinaus gezwungen, werden die Männer draußen vom tobenden Mob erwartet, der mit Knüppeln und Hacken auf sie einschlägt.

    Mit gebrochener Nase und einer Platzwunde am Kopf entkommt Akilli, seinem Onkel werden die Rippen gebrochen. Die Opfer schleppen sich zum Krankenhaus, während die zweistöckige Buchhandlung ausbrennt. Der Mob wendet sich inzwischen den nächsten Geschäften zu und brennt Konditorei, Imbissbude und eine Boutique nieder, bevor er die Fahnen einrollt und sich zufrieden davonmacht.

    Die Gewaltspirale gegenüber Türken und Kurden dreht sich

    Eine typische türkische Kleinstadt bleibt Kirsehir damit auch weiterhin, denn überall in der Türkei spielen sich in der Nacht solche und ähnliche Szenen ab. „Wohl dem, der wahrer Türke ist“ und „Rache, Rache“ skandieren hunderttausende nationalistische Demonstranten bei Fackelzügen, Protestmärschen und Autokonvois in dutzenden türkischen Städten. In mehr als 400 Orten werden die Büros der Kurdenpartei angegriffen, geplündert oder niedergebrannt – sogar in der Hauptstadt Ankara, wo vier Verkehrspolizisten ungerührt zusehen, wie der Mob den Sitz der drittstärksten Partei im türkischen Parlament anzündet.

    Rassistische Angriffe eskalieren schon seit Tagen in der Türkei – seit die PKK mit tonnenschweren Sprengfallen mehrere Wagen voller türkischer Polizisten und Soldaten in die Luft gejagt hat und sich triumphierend damit brüstet. In Istanbul wird ein junger Kurde von türkischen Nationalisten erstochen, weil er vor ihrem Kaffeehaus auf Kurdisch telefoniert. In der Ägäis-Provinz Mugla wird ein Kurde von einem Lynch-Mob gezwungen, die Atatürk-Büste auf dem Marktplatz zu küssen. In der türkischen „Kristallnacht“ marschieren nun tausende fahnenschwingende Jugendliche mit Fackeln durch

    Noch vor wenigen Monaten herrschte in der Türkei die Hoffnung auf ein Ende des Kurdenkonflikts, doch nun ist davon nichts mehr übrig. Ein Großteil der Verantwortung dafür sehen viele Türken bei Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der vor den Parlamentsneuwahlen am 1. November den Druck auf die HDP erhöhen will, um damit seiner eigenen Partei AKP mehr Wähler zuzutreiben. Sollte die HDP unter die Zehn-Prozent-Hürde fallen, würde die Zahl der AKP-Sitze im Parlament erheblich steigen. Erdogan bezeichnet die HDP regelmäßig als verlängerten Arm der PKK-Rebellen.

    Mehr als 250 Tote hat der Konflikt schon gefordert

    Doch alles auf den Präsidenten zu schieben, wäre zu einfach. Die Hardliner in der PKK haben mit dem Neubeginn ihrer Angriffe im Juli die Spirale der Gewalt überhaupt erst in Gang gesetzt, und sie ignorieren den Ruf der legalen Kurdenpartei HDP nach einem neuen Waffenstillstand. „Es ist nicht die Aufgabe der HDP, uns einen Waffenstillstand nahezulegen“, erwiderte PKK-Kommandeur Cemil Bayik den Appell von Parteichef Demirtas. Am Morgen nach der „Kristallnacht“ ruft auch Demirtas seine Anhänger zur Gegengewalt auf. Rechtsnationalisten würden ab jetzt ihr blaues Wunder erleben: „Ihre Mütter werden es bereuen, sie zur Welt gebracht zu haben.“

    Die Türkei und der Kurdenkonflikt

    Die Beilegung des seit 1984 andauernden bewaffneten Konflikts zwischen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und der türkischen Armee schien in den letzten zwei Jahren greifbar nahe zu sein.

    Nachdem in dem Konflikt etwa 45.000 Menschen getötet worden waren, begannen 2012 Gespräche des türkischen Geheimdienstes mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan.

    Zum Newroz-Fest am 21. März 2013 erklärte Öcalan eine Waffenruhe und den von der Türkei verlangten Rückzug der PKK-Einheiten aus der Türkei.

    Im Juli 2014 beschloss das Parlament in Ankara auf Initiative der Regierung Erdogan ein Gesetz als Basis für einen Friedensprozess und die Rückkehr der PKK-Mitglieder in die Gesellschaft.

    Ein neuer politischer Konflikt schwelt seit der Parlamentswahl am 7. Juni 2015. Die AKP von Staatschef Erdogan erreichte nur 41 Prozent der Stimmen und braucht damit einen Koalitionspartner.

    Bisher ist es nicht gelungen, eine Regierung zu bilden. Überraschend stark schnitt die legale Kurdenpartei HDP unter Oppositionsführer Demirtas ab. Sie erreichte 13 Prozent der Stimmen.

    Immer schneller dreht sich der Strudel, in dem die Türkei unterzugehen droht. Bei Straßenkämpfen in der kurdischen Stadt Cizre starben in den letzten Tagen mindestens sechs Zivilisten – darunter ein kleines Mädchen, deren Familie ihre Leiche in den Kühlschrank packen musste, weil alle Straßen aus der Stadt gesperrt waren. Insgesamt wurden dem Konflikt in den letzten acht Wochen mehr als 250 Menschen geopfert.

    In der Millionenstadt Diyarbakir stranden tausende Passagiere, weil alle Reisebus-Verbindungen in den Westen des Landes gekappt sind. Da Fahrzeuge mit den Kennzeichen der kurdischen Provinzen seit Tagen mit Steinen beworfen werden, wenn sie im Westen der Türkei auftauchen, haben die Busfirmen den Verkehr eingestellt.

    „Dieser Weg führt geradewegs zur Hölle“, schreibt der angesehene Kommentator Hasan Cemal inzwischen in einem Brandbrief, den er an Staatspräsident Erdogan, PKK-Chef Abdullah Öcalan und das PKK-Hauptquartier im Nordirak richtet. „Um Gottes willen, wann kommen wir zur Besinnung?“ Am Tag nach der türkischen „Kristallnacht“ weiß niemand eine Antwort darauf.

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