Es gibt wohl nur wenige Menschen, die ausgerechnet dann ihre Schüchternheit ablegen, wenn sich ihr Gegenüber auszieht. Spencer Tunick ist so ein Mensch. „Wenn sich die Leute vor mir entkleiden, verliere ich ein Stück weit meine Zurückhaltung“, sagt Tunick. Er blickt ein wenig scheu, weiß manchmal nicht so recht, was er mit seinen Händen machen soll, während er spricht. Kaum vorstellbar, dass er Tausende nackter Menschen koordiniert, wenn er eine seiner berühmten Installationen fotografiert.
Nackte auf dem Alpengletscher
Nackte auf der ganzen Welt hatte Tunick schon vor der Kamera. Auf dem Schweizer Aletschgletscher, vor der Oper in Sydney oder vor der Freiheitsstatue von Simon Bolivar in Caracas.
Wer an seinen Kunstprojekten teilnimmt, wird selbst zum Artefakt. Seine Kunst ist eine Kunst der Partizipation. „Mich fasziniert die Schönheit, die jedem Menschen eigen ist“, sagt Tunick. Das sieht nicht jeder so. Wütende Gegner, die nachts vor seinem Hotel demonstrieren, kennt Tunick. Einmal wurde der Künstler verhaftet, als er Nackte in Manhattan fotografieren wollte.
Manchmal, bedauert er, werde die Kunst verkannt. Denn ihm gehe es nicht darum, Nacktheit zur Schau zu stellen, sondern darum, Geschichten zu erzählen.
Am morgigen Samstag, kurz vor Sonnenaufgang, werden in München zur Eröffnung der Opernfestspiele rund 2500 Menschen zu einem von Tunicks Werken verschmelzen. „Der Ring“ heißt die neue Arbeit des Künstlers, inspiriert von Richard Wagners Opus Magnum „Der Ring des Nibelungen“ und der Neuinszenierung von Regisseur Andreas Kriegenburg an der Bayerischen Staatsoper.
Tunick geht es darum, den Mythos der Geschichte über die Körper zu erzählen. Hunderte mit roter Farbe bemalter Menschen werden am Odeonsplatz die Flammen aus dem Mund eines Drachen bilden. Im Königssaal der Oper soll ein Berg von goldenen Körpern Reichtum symbolisieren. Die Orte, an denen fotografiert wird, werden von der Polizei abgesperrt.
Heilsam sei das Mitwirken an seinen Werken, sagt er. Es ginge darum, Mut zu beweisen, die eigenen Grenzen zu überwinden und sich auf eine Verwandlung einzulassen – nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Eine Verwandlung, die auch Tunick mitmacht. Wenn am Samstagmorgen Tausende nackter Menschen in der Morgensonne Elemente aus Wagners Opernzyklus darstellen, wird nichts mehr von Tunicks Schüchternheit zu spüren sein.