Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

"Krisen-Paradoxon": Warum Patientenzahlen und Krankschreibungen trotz Corona sinken

"Krisen-Paradoxon"

Warum Patientenzahlen und Krankschreibungen trotz Corona sinken

    • |
    In den Notaufnahmen der Krankenhäuser sinken die Patientenzahlen im Lockdown stark. „Die Patientenzahlen in den Notaufnahmen gehen an manchen Tagen fast um 40 Prozent zurück“
    In den Notaufnahmen der Krankenhäuser sinken die Patientenzahlen im Lockdown stark. „Die Patientenzahlen in den Notaufnahmen gehen an manchen Tagen fast um 40 Prozent zurück“ Foto: Fabian Strauch, dpa

    Keine Frage: Für viele Menschen sind die Kontaktbeschränkungen eine große seelische Belastung. Besonders hart trifft es jene, die direkt unter den wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns leiden. Ärzte aus psychiatrischen Kliniken berichten, in der Pandemie viele neue Patienten zu Gesicht bekommen zu haben, die nie mit psychischen Leiden zu tun hatten – auch wenn die Zahl der Behandlungen nicht gestiegen sei. Auch Kinderärzte und Jugendtherapeuten berichten über mehr verhaltensauffällige Kinder.

    Doch zuverlässige Zahlen, ob tatsächlich die Zahl seelischer Erkrankungen zunimmt, gibt es nicht. Im Gegenteil, die größte deutsche Krankenkasse AOK verzeichnete im vergangenen Jahr sogar einen stellenweisen Rückgang der Krankschreibungen wegen psychischer Leiden. Und die Gesamtzahl aller Krankmeldungen sank trotz über zwei Millionen Corona-Infektionen im vergangenen Jahr sogar.

    Corona-Pandemie lässt Antbiotika-Verschreibungen sinken

    Warum das so ist, versuchen gerade viele Kassen mit der Analyse ihrer Abrechnungsdaten herauszufinden: Denn die tatsächlichen Behandlungen geben darüber viel mehr Aufschluss als die Erstdiagnose auf einer Bescheinigung für den Arbeitgeber. Manche Erkenntnisse überraschen: So wurden nach Angaben der Techniker Krankenkasse 2020 über Monate hinweg so wenige Antibiotika verschrieben wie seit 20 Jahren nicht mehr. Noch überraschender wirkt derzeit ein Blick in die deutschen Notaufnahmen.

    Laut des Situationsreports des Robert-Koch-Instituts verzeichnen die deutschen Notaufnahmen derzeit einen drastischen Rückgang an Patienten: Um genau 30,8 Prozent lag im vom Lockdown geprägten Januar die Zahl der Neuaufnahmen unter dem Schnitt von vor der Pandemie. Und dabei handelt es sich nicht nur um sogenannte „nicht dringende“ Fälle, wenn Patienten beispielsweise außerhalb der Sprechstunden-Zeiten an der Klinikpforte aufschlagen.

    Auch der Rettungswagen fährt seltener vor: Die „sehr dringenden“ und „dringenden“ Fälle gingen ebenfalls stark zurück, ebenso jene, die als „normale“ Notfälle gelten. Zum Beispiel liegen Einlieferungen wegen Herz- und Kreislauf-Erkrankungen in vielen Kliniken um fast ein Drittel unter dem Niveau vom Januar 2020, bevor die Pandemie Deutschland in den Griff nahm.

    Patienten-Rückgang in der Notaufnahme um bis zu 40 Prozent

    „Wir stellen fest, dass die Patientenzahlen in den Notaufnahmen ähnlich wie im ersten Lockdown um 30 Prozent, an manchen Tagen sogar fast um 40 Prozent zurückgehen“, sagt der Notfallmedizin-Professor Felix Walcher. „Die Gründe werden mit unseren Daten gerade von mehreren Arbeitsgruppen untersucht“, erklärt das Präsidiumsmitglied der Deutschen Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI. „Eine Theorie ist, dass die Patienten Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 haben und nicht die Notaufnahme der Krankenhäuser in Anspruch nehmen.“

    Dies würde bedeuten, dass weniger kranke Menschen den Rettungsdienst rufen oder in die Notaufnahme kommen. „Gemäß dieser Theorie kommen die Patienten erst später, aber auch kränker in die Notaufnahmen“, sagt Walcher. „Die große Gefahr in diesem Fall wäre, dass die Patienten mit einem leichten Infarkt oder Schlaganfall nicht ins Krankenhaus gehen oder gebracht werden, dafür aber später mit einem umso schwereren Verlauf in der Notaufnahme landen.“

    Der Magdeburger Uniklinik-Professor betont allerdings, dass dies nur Mutmaßungen seien. „Ob diese Theorie zutrifft, wissen wir noch nicht. Eine andere Annahme ist, dass die Bevölkerung derzeit weniger aktiv ist und es deshalb sowohl weniger Unfälle gibt, aber auch andere akute Fälle, die möglicherweise durch besonderen Stress ausgelöst werden.“ Das Phänomen der stark sinkenden Zahlen in den Notaufnahmen gebe es weltweit.

    Ist die Lockdown-Therapie verhängnisvoller als die Pandemie?

    Tatsächlich kennt man das Phänomen sinkender Erkrankungszahlen in Industrieländern auch aus anderen Krisen: In den USA ging beispielsweise die Sterblichkeit in der schweren Finanzkrise und den folgenden Jahren zurück, obwohl man einen deutlichen Anstieg erwartet hatte.

    Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Christopher Ruhm nannte diese Erkenntnis das „Rezessions-Paradox“: Demnach könnten sich wirtschaftliche Krisen unterm Strich eher positiv auf die Gesundheit der Menschen auswirken. Auch eine aktuelle Studie der „Bank für Internationalen Zahlungsausgleich“ kommt für die Covid-Pandemie für die Industrieländer zu einem ähnlichen Schluss. Die Ökonomen untersuchten die These, ob die Lockdown-Therapie unter Umständen verhängnisvoller sein könnte als die Pandemie selber.

    In armen Ländern, in denen die Menschen kaum Zugang zu einem gut funktionierenden Gesundheitssystem hätten, sagten die Forscher einen Anstieg der Todesfälle durch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in den kommenden Jahren voraus. In den reichen Industrieländern werde es dagegen nicht dazu kommen.

    Hier führten Wirtschaftskrisen zu einer sinkenden Zahl der Arbeits- oder Verkehrsunfälle, viele würden in Krisen gesünder leben, sich eher mit Selbstgekochtem statt Fast Food ernähren und mehr soziale Kontakte pflegen, schreiben die Forscher. Entwicklungen, die teilweise nicht nur für Wirtschaftskrisen, sondern möglicherweise auch für die Pandemie gelten.

    Notfallregister "Atkin" hilft Notaufnahmen zu digitalisieren

    „Die Theorie, dass in Industrieländern Krisen nicht nur negative, sondern auch gesundheitlich positive Effekte auf die Menschen haben könnten, klingt sinnvoll“, sagt auch Notfallmediziner Walcher. „Ich hoffe, dass wir aus der Pandemie lernen, dass wir auch ohne Zwang in normalen Zeiten Stress aus unserem Leben herausnehmen und uns darauf besinnen, was wirklich wichtig ist. Das würde den Industrieländern sehr guttun, denn wir sehen in vielen Bereichen, es geht auch anders.“

    Prof. Dr. Felix Walcher ist Präsident elect der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).
    Prof. Dr. Felix Walcher ist Präsident elect der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Foto: Sarah Kossmann

    Die Gründe für den Rückgang der Notaufnahmefälle sollen nun genau analysiert werden. Dabei hilft, dass immer mehr Krankenhäuser an das digitale Notfallregister „Atkin“ angeschlossen sind, unter anderem die Augsburger Uniklinik. Pionier der Digitalisierung war Notfallmediziner Walcher selbst: „Ich habe mich als junger Facharzt immer gefragt, warum jegliche Dokumentation in der Klinik wiederholt durchgeführt werden muss.“

    Erst dokumentiere der Notarzt seine Diagnose und Therapie, dann werde der Fall in der Notaufnahme erneut erfasst „und schließlich kommen die Patienten zum Beispiel in den OP, dann auf die Station und jedes Mal wird die Behandlung meist von Grund auf neu dokumentiert“, berichtet Walcher.

    Er spricht von sinnloser Verschwendung wertvoller Arbeitszeit. Nach über 13 Jahren Überzeugungs- und Entwicklungsarbeit war das „Atkin“-System nun pünktlich zum Beginn der Pandemie einsatzbereit. Es entlastet nicht nur die Mediziner von Bürokratie, sondern liefert in Echtzeit Daten über das aktuelle Geschehen in den Notaufnahmen. „Wir haben uns damit aus dem digitalen Mittelalter in die Welt von Morgen katapultiert.“

    Lesen Sie dazu auch:

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden