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Krisen: Naher Osten, Italien, Großbritannien: Taumelnd durch die neue Zeit

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Naher Osten, Italien, Großbritannien: Taumelnd durch die neue Zeit

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    In Beirut explodierte auch ein politisches System.
    In Beirut explodierte auch ein politisches System. Foto: Bilal Jawich, dpa

    Der Nahe Osten: Reformen, explodierende Ölpreise, Bürgerkriege

    Als im August mehr als 2000 Tonnen illegal gelagertes Ammoniumnitrat in Beirut in die Luft flogen, explodierte nicht nur der Hafen der libanesischen Hauptstadt, sondern auch ein überholtes politisches System. Politiker, die früher aus dem Vollen schöpfen konnten, um Gefolgsleute zu versorgen und der Bevölkerung ein Mindestmaß an Wohlstand und Sicherheit zu garantieren, haben immer weniger Geld zu verteilen.

    Die wütende Bevölkerung fordert Reformen, die auf die Entmachtung der herrschenden Klasse hinauslaufen würden. Deshalb lehnt die Führungsschicht grundlegende Veränderungen ab, doch wie lange das gut geht, weiß niemand. Auch wenn das Regierungssystem im Libanon besonders dysfunktional ist, gleichen die Zustände denen in vielen anderen Ländern der Region. Fundamentale Verschiebungen in Wirtschaft und Gesellschaft läuten eine Zeitenwende im Nahen Osten ein.

    Das Unglück in Beirut ließ ein ganzes Land fassungslos zurück
    Das Unglück in Beirut ließ ein ganzes Land fassungslos zurück Foto: Wael Hamzeh, dpa

    Mit der Entdeckung großer Ölvorräte und der Gründung von Nationalstaaten im arabischen Teil des früheren Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg begann eine Ära, die jetzt zu Ende geht. Das Öl bescherte den Herrschern neuer Staaten wie Saudi-Arabien märchenhaften Reichtum und genug Geld für einen autoritären Tauschhandel: Der Staat sicherte seinen Bürgern genug Jobs und Wohlstand, meist durch eine aufgeblähte Bürokratie, während die Bürger im Gegenzug auf politische Teilhabe verzichteten.

    Dieses Modell hat ausgedient. Selbst die reichen Golfstaaten können sich diesen Tauschhandel kaum noch leisten, weil die Ölpreise kollabiert sind. Saudi-Arabien zum Beispiel braucht einen Ölpreis von 66 Dollar pro Barrel (je 159 Liter) für einen ausgeglichenen Staatshaushalt, doch derzeit liegt der Preis bei 40 Dollar. Nur wenige Staaten der Region wie die Vereinten Arabischen Emirate haben sich aus der Abhängigkeit vom Öl befreit und setzen auf moderne Branchen wie Finanzdienstleistungen. Saudi-Arabien strebt dies ebenfalls an, ist aber spät dran: Wegen der niedrigen Ölpreise wird das Geld knapp.

    Das Königreich musste vor zwei Jahren erstmals eine Mehrwertsteuer einführen und diese in diesem Jahr verdreifachen.   Wenn schon reiche Länder wie Saudi-Arabien finanzielle Probleme bekommen, dann sieht es für Staaten ohne große Ölvorräte noch schwieriger aus. Der Libanon lebte lange davon, dass die Zentralbank hohe Zinsen für Dollar-Investitionen anbot, doch das funktioniert nicht mehr.

    In Ägypten fehlen Milliarden, weil wegen der Pandemie kaum noch Touristen ins Land kommen und ägyptische Arbeiter in den Golfstaaten nur noch wenig Geld nach Hause überweisen. Und das sind nur die akuten Probleme. Die Weltbank schätzt, dass der Nahe Osten und Nordafrika in den nächsten 30 Jahren rund 300 Millionen neue Arbeitsplätze brauchen. Die derzeitigen staatlichen Systeme werden diese Aufgabe nicht bewältigen können.

    Eine Frau füllt in einem Wahllokal in Giseh ihren Stimmzettel aus. In Ägypten herrscht ein politisches Klima ohne wahre Opposition.
    Eine Frau füllt in einem Wahllokal in Giseh ihren Stimmzettel aus. In Ägypten herrscht ein politisches Klima ohne wahre Opposition. Foto: Sayed Hassan, dpa

    Von Algerien bis zum Iran sind die Menschen nicht bereit, das Versagen der traditionellen Herrschaftssysteme hinzunehmen. Wer kann, verlässt die Heimat: Nach einer Umfrage denken 42 Prozent der Araber zwischen 18 und 24 Jahren ans Auswandern. Die im Vergleich zu Europa sehr junge und schnell wachsende Bevölkerung sieht kaum noch Chancen in Ländern, in denen die politischen Eliten keine Antworten auf die neuen Herausforderungen finden.

    Im Libanon wollen drei von vier jungen Leuten das Land verlassen. Der Arabische Frühling von 2011 hatte die Staaten des Nahen Ostens bereits mit der Unzufriedenheit der Menschen konfrontiert. In Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Sudan und Jemen mussten langjährige Herrscher abtreten, Libyen und Syrien versanken in Bürgerkriegen. Jetzt steigt der Druck der jungen Generation auf die Regime in der Region wieder an. Der Nahe Osten wird sich verändern müssen.

    Italien: Zwei große Krisen und überforderte Regierungen

    Zeitenwenden gehen häufiger mit unübersehbarer Dekadenz einher, die ja schon beim Untergang des Römischen Reichs eine Rolle gespielt haben soll. Ob das Jahr 2011 für Italien eine Zeitenwende bedeutet hat, werden erst die Historiker feststellen. Die Dekadenz zum Ende der mit Unterbrechungen seit 1994 dauernden Ägide Silvio Berlusconis war allerdings nicht zu übersehen.

    Das hochverschuldete Land, das in einer schweren Finanzkrise steckte, war damals nicht weniger mit "Bunga Bunga" beschäftigt. So hatte die Presse die organisierten sexuellen Ausschweifungen Berlusconis getauft, mit denen der Ministerpräsident gerne selbst prahlte. Als aber die Teilnahme von Prostituierten, zumal minderjährigen, an den Orgien bekannt wurde, hörte der Spaß auch für die skandalgeübten Italiener auf.

    Der Medienmogul im Amt des Regierungschefs begann zu taumeln. Da halfen auch die Gesetze nicht mehr, die sich Berlusconi auf den Leib hatte schneidern lassen, um der Strafverfolgung zu entgehen. Immer besorgter waren auch die anderen EU-Staaten angesichts der Frage, ob die horrenden italienischen Staatsschulden noch finanzierbar seien – und, wenn nicht, was das für Folgen für den gesamten Euro-Raum haben würde. Der Regierungschef schien der Lage jedenfalls nicht mehr Herr zu sein.

    Die Italiener lernten, was das Wort "Spread" bedeutete, nämlich den Zinsaufschlag, den Italien für seine Staatsanleihen an den Finanzmärkten zahlen musste. Deutschland und seine Kanzlerin wurden in jenem Sommer nicht beliebter in Italien. Berlusconi musste zurücktreten, der Ökonom Mario Monti übernahm. Wie es heißt, ging damit die Zweite Republik in Italien zu Ende. Die erste bestand seit 1946 aus dem Dualismus zwischen Christdemokratie und Kommunismus.

    Prahlte gerne mit seinen sexuellen Ausschweifungen: Silvio Berlusconi.
    Prahlte gerne mit seinen sexuellen Ausschweifungen: Silvio Berlusconi. Foto: Valerio Portelli, dpa

    Die dritte hat vermutlich vor zwei Jahren begonnen: Kaum schien die Finanz- und Schuldenkrise in ihrer akuten Phase überwunden, kündigte sich bereits die nächste Durstrecke an. Zwischen 2014 und 2016 steuerten über 500.000 Migranten Italien über das Mittelmeer an, weil Libyen mit dem Ende des Ghadaffi-Regimes den Strom nicht mehr kontrollierte. Italien, inzwischen vom Sozialdemokraten Matteo Renzi regiert, war erneut überfordert und ließ die Flüchtlinge einfach nach Norden weiterreisen. Damit war auch das europäische Regelwerk für Asyl ad absurdum geführt.

    Zwei große Krisen mit überforderten Regierungen und mit sich selbst zu beschäftigten Premierministern ebneten dem Populismus das Feld. Bei der Parlamentswahl 2018 holte die Fünf-Sterne-Bewegung des Satirikers Beppe Grillo die meisten Stimmen. Nicht mehr ein vermeintlicher, sondern ein echter Clown saß nun an der Macht. Das Bedürfnis nach Sicherheit, die Abgrenzung zum Fremden und das geschundene nationa- le Selbstbewusstsein ebneten der rechten Lega den Weg.

    Sie bildete mit den Sternen zusammen die neue Regierung, in der sich vor allem Innenminister Matteo Salvini mit den lautesten Rowdy-Manieren profilierte. Er und die Sterne waren die Stellvertreter für die Wut der in ihrem Stolz gekränkten Italiener. Der neue Premierminister Giuseppe Conte, vor kurzem noch ein der Politik fern stehender Rechtsanwalt, ist dank seines staatsmännischen Auftretens derzeit zwar sehr populär. Die Gunst der Wähler aber wechselt schnell in Italien, die Zukunft des Landes ist ungewiss wie nie.

    Großbritannien: Rücktritte, Parteispaltungen, Drohungen und Demütigungen

    Als es draußen besonders laut und hitzig wurde, irgendwann während einer dieser irrsinnigen Wochen im vergangenen Jahr, in denen die Demonstranten zu tausenden nach Westminster reisten und wütend protestierten, als das höchste Gericht des Landes befand, dass die Regierung das Gesetz gebrochen habe und nicht nur das Parlament, sondern auch ihre Königin angelogen habe, als die Abgeordneten aller Seiten offen rebellierten, da versammelte Premierminister Boris Johnson sein Kabinett, schaute in die Runde der besorgten Gesichter und fragte die Kollegen: "Hat schon mal jemand Motocross ausprobiert?"

    Wie die anderen Anwesenden schüttelte Staatsminister Michael Gove, konservativ durch und durch, den Kopf. Und Johnson erklärte: "Es wird holpriger und holpriger und überall spritzt der Matsch." Aber: "Haltet euch nur an den Handgriffen fest und wir werden das durchstehen." Eine typische Johnson-Analogie, mit der der Regierungschef aber zumindest kurzfristig recht behalten sollte. Bei der nächsten Wahl fuhren die Tories die absolute Mehrheit ein, am 31. Januar dieses Jahres verließen die Briten die Europäische Union.

    Beleidigungen, Demütigungen, Drohungen. Der Brexit hat das Königreich schier überwältigt.
    Beleidigungen, Demütigungen, Drohungen. Der Brexit hat das Königreich schier überwältigt. Foto: Frank Augstein, dpa

    Die Regierung unter Johnson, um beim Motocross-Vergleich zu bleiben, hat es über die Ziellinie geschafft – dreieinhalb Jahre nach dem historischen Referendum. Da schon wurde es schmutzig und man bewarf sich mit verbalem Unrat, insbesondere beim Thema Einwanderung. Manche Akteure meinten, sie könnten sich den aufgewühlten Dreck einfach vom maßgeschneiderten Anzug klopfen und weitermachen. Doch die draufgängerischen Fahrer, angeführt von Johnson, haben einiges an Verwüstung hinterlassen. Die Gesellschaft ist polarisierter denn je und eine Versöhnung zwischen dem proeuropäischen Lager und jenem der Brexit-Anhänger scheint derzeit ausgeschlossen.

    "Der Brexit hat tiefe Spaltungen bei Identität und Werten hervorgebracht", schreiben die Politikwissenschaftler Maria Sobolewska und Robert Ford in ihrem Buch "Brexitland". Es gehe um weitaus mehr als Großbritanniens Beziehung zu den europäischen Partnern. "Während der formale Brexit-Prozess zu Ende gehen mag, wird Brexitland bleiben." Man könne erkennen, dass sich der Konflikt zwischen den Brexit-Stämmen in ein Thema nach dem anderen einschleiche – ob es um Ansichten über Institutionen, Politiker oder Sachthemen wie Bildung oder Umweltschutz gehe.

    Die britische Politik wurde seit der Volksabstimmung in ihren Grundfesten erschüttert. Hunderte Stunden Parlamentsdebatten, Rücktritte, Parteispaltungen, zwei Unterhauswahlen, eine Parlaments-Zwangspause, Drohungen und Demütigungen, nächtliche Abstimmungen und immer wieder Niederlagen. Das Projekt hat das Königreich schier überwältigt.

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