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Krise: Belgien, ein tief gespaltenes Land

Krise

Belgien, ein tief gespaltenes Land

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    Belgien erneut vor Regierungskrise: Der designierte Premierminister Elio Di Rupo hat Albert II. seinen Rücktritt angeboten.
    Belgien erneut vor Regierungskrise: Der designierte Premierminister Elio Di Rupo hat Albert II. seinen Rücktritt angeboten. Foto: dpa

    Mike ist stolz auf seine Tankstelle direkt am Ortseingang von Halle, unmittelbar vor den Toren Brüssels. Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal hier einen Zwischenstopp einlegte und den Kassenraum mit einem freundlichen Bonjour betrat, ließ mich der bullig wirkende Mann in seinem ewig verdreckten Kittel einfach links liegen. Auch als ich auf Französisch sagte, ich wolle bitte bezahlen, erhob er sich nicht von seinem Stuhl, sondern blickte einfach an mir vorbei. Irgendwann stand er dann doch auf, kam hinter die Theke und sagte mir – wohlgemerkt auf Englisch: In meiner Tankstelle redet niemand französisch. Wir sind hier in Flamen, Herr Deutscher.

    Inzwischen sehe ich Mike alle vier Wochen und habe als Zeichen des höchsten Vertrauens ein besonderes Geschenk bekommen: Ich weiß heute, dass Mike eigentlich auf den Namen Michel getauft wurde. Das klingt französisch, was für einen Flamen untragbar ist.

    Belgien gibt es nicht

    Belgien gibt es nicht. Dieses Land mit seinen über sechs Millionen flämisch sprechenden Bürgern, den rund drei Millionen frankofonen Wallonen und den etwa 900000 Einwohnern der deutschsprachigen Gemeinschaft ist dreigeteilt. König Albert II. nennt sich ausdrücklich König der Belgier. Doch die wollen von solchem Nationalismus wenig wissen.

    Wie Hilde und George, die in einem kleinen wallonischen Vorort Brüssels wohnen. Es gibt dort alles, was ihre beiden Kinder brauchen, auch ein Gymnasium. Trotzdem fahren sie ihre Töchter lieber jeden Morgen zehn Kilometer weit in eine flämische höhere Schule: Wer in diesem Land etwas werden will, muss flämisch sprechen und eine flämische Ausbildung bekommen, sagen die beiden.

    Dieses Land hat keine gemeinsame Zeitung, kein belgisches Fernsehen und keinen belgischen Rundfunk. Man wählt nicht einmal gemeinsam. In Flandern dürfen die Bewohner nur flämischen Abgeordneten ihre Stimme geben, in der Wallonie nur wallonischen.

    Um die Metropole Brüssel wird gestritten

    Mittendrin liegt die Metropole Brüssel, um die seit 30 Jahren gestritten wird. Denn der heutige Wahlkreis Brüssel mit den Vororten Halle und Vilvoorde reicht weit in die flämische Region hinein. Da in diesem Großraum aber überwiegend französischsprachige Bewohner leben, ersann man vor rund 30 Jahren einen Sonderstatus: Brüsseler sowie die Einwohner von rund 35 weiteren Gemeinden dürfen jeden wählen. Das ging so, bis vor wenigen Jahren das höchste Gericht des Landes die Praxis als verfassungswidrig einordnete. Ein Stolperstein war geschaffen, an dem in den vergangenen Jahren immer wieder Regierungen zerbrachen und Ministerpräsidenten strauchelten.

    Nun hat einer eine Lösung durchgesetzt: Elio di Rupo, Chef der wallonischen Sozialisten, 60 Jahre alt, bekannt als Mann mit der Fliege. Am vergangenen Sonntag gelang es ihm auch noch, einen Haushalt für 2012 aufzustellen. Damit deutet sich ein Ende des rund 15-monatigen Chaos an, das das Land gleich mehrfach bis an den Rand des Überlebens gebracht hatte. Doch ob die Lösung hält, weiß heute niemand. Denn auch sie ist einer jener wackeligen belgischen Kompromisse. Rund 29 der bisherigen Hauptstadtgemeinden wählen künftig flämisch. In den übrigen sechs dürfen die frankofonen Einwohner auch wallonisch abstimmen, die Flamen wiederum nur flämisch.

    In Brüssel bleibt es bei dem Sonderstatus, was genau genommen inkonsequent ist. Schließlich gibt es die Millionenstadt Brüssel nicht. Auch sie besteht aus 19 kleineren Gemeinden, die wiederum mal der einen, mal der anderen Sprachengemeinschaft angehören.

    Ein typischer Kompromiss in der U-Bahn

    Das prägt das Bild der Stadt auf eine für Nichtbelgier kaum zu begreifende Weise. Wer beispielsweise abends mit der Metro fährt, wird mit Musik beschallt. Lange Jahre ging das auch gut so, bis der Verdacht aufkam, flämische Künstler kämen bei der Titelauswahl zu kurz. Seit einigen Monaten ist nun geregelt: Das musikalische Programm in den Metro-Bahnhöfen muss zu gleichen Teilen aus flämischen wie wallonischen Titeln bestehen. Dazwischen sind englischer Pop und Klassik erlaubt. Verrückt? Nein, ein typisch belgischer Kompromiss.

    Ebenso die zweisprachige Beschriftung der Straßennamen. In flämischen Vierteln steht der flämische Name oben, in wallonischen der wallonische. Das hat auf Touristen mitunter muntere Auswirkungen. Wer mit seinem Navigationssystem in Brüssel zum Sitz der Europäischen Kommission in der Rue de la Loi möchte, sucht vergebens. Denn der europäische Gesetzgeber sitzt zum einen nicht in Brüssel, sondern in der Gemeinde Etterbeek. Diese ist zum anderen flämisch und deshalb wird die Rue de la Loi von den meisten Navis nicht gefunden. Es sei denn, man hat die korrekten Straßennamen in Niederländisch parat: Wetstraat.

    Der Sprachenstreit hat zutiefst wirtschaftliche Wurzeln. Und er hat ein Symbol: die Universität von Löwen, rund 25 Kilometer vor Brüssel. Die katholische Hochschule gilt als das renommierteste Institut des Landes, hier wurde lange die Elite des Königreiches ausgebildet – eine französisch sprechende Elite. 1911 setzten die Flamen den ersten Schritt in Richtung Autonomie: Sie durften in ihrer Sprache studieren. 1968 eskalierten die Gegensätze: Die flämische Studentenschaft vertrieb die wallonischen Kommilitonen vom Universitätsgelände. Am Ende wurde eine neue Universität gegründet: Gleich nebenan in Louvain-la-Neuve, was übersetzt so viel heißt wie Neu-Löwen. Den Bücherbestand teilte man auf: Bücher mit gerader Signatur gingen an die eine, Bücher mit ungerader an die andere Uni. Seit Jahren fährt ein Bücherbus die Einzelstücke hin und her, nachdem sie in einem aufwendigen Verfahren angefordert wurden.

    Weltrekord in regierungsloser Zeit

    Kurios ist auch: Wer will, kann heute sein Auslandssemester an der jeweils anderen Hochschule verbringen, die früher einmal eine war. Umso verständlicher, dass gerade die Studenten Träger der Einheitsidee sind. Als vor einigen Monaten Belgien den bisherigen Weltrekord für eine regierungslose Zeit einstellte, feierten sie bei den wohl einzigen Symbolen, die das Land wirklich vereinen: Bier und Fritten.

    Ob es Elio di Rupo nun gelingt, nach der Beendigung des Streits um Brüssel auch die Gemüter wieder zu beruhigen, wird viel von kleinen, praktischen Lösungen abhängen. Im Umfeld der Hauptstadt warten seit fast zwei Jahren drei frankofone Bürgermeister von flämischen Ortschaften auf ihre offizielle Bestätigung. Die wird ihnen verweigert, weil sie im Kommunalwahlkampf französische Handzettel verteilt hatten. Das war nicht nur eine kämpferische Geste, die die andere Seite ärgerte, sie trug auch zum gegenseitigen Missverstehen bei: Denn es gibt nur relativ wenige Landeskinder, die sich in beiden wichtigen Sprachen ihrer Heimat sicher bewegen können. Flamen lernen kein Französisch. Und die Frankofonen tun sich schwer mit dem Flämischen.

    Den Vogel schoss dabei vor Jahren Ministerpräsident Yves Leterme (ein Flame) ab. Bei den Feierlichkeiten zur Staatsgründung wurde er vor laufender Kamera gebeten, die belgische Nationalhymne anzustimmen. Was er dann sang, war die französische Marseillaise. Eine Kampfansage an den Staat Belgien.

    Der Wahlsieger darf nicht mitregieren

    Der muss noch einiges aushalten. Denn der kommende Regierungschef Elio di Rupo wird ein Kabinett aus sechs Parteien aufstellen: Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen jeweils aus Flandern und der Wallonie. Der eigentliche Wahlsieger aber bleibt ausgeschlossen: Bart de Wever, Chef der neuen Flämischen Allianz (N-VA). Er hatte im Juni 2010 die Wahlen mit Abstand gewonnen, weil er seine Landsleute mit einem Bekenntnis zur Abwicklung Belgiens begeistert hatte. Der Unruhestifter sitzt künftig zwar im Parlament, darf aber nicht mitregieren. Ob das gutgeht?

    Belgiens Zukunft ist ungewiss. Denn in der Regierungskrise haben sich die wirtschaftlichen Probleme drastisch verschärft. Lange hat man geschwiegen, um das Land nicht als neues Opfer der Spekulanten hochzureden. In diesen Tagen ist genau das passiert: 5,6 Prozent Zinsen musste Finanzminister Didier Reynders am gestrigen Montag bezahlen, um Staatsanleihen über zwei Milliarden Euro platzieren zu können. Bei sieben Prozent droht der Rettungsschirm. Doch nun soll ja gespart werden: in der Verwaltung, bei Steuerrabatten für Dienstwagen und anderen schmerzhaften Details.

    Standard & Poors hatte Belgien erst am Freitag herabgestuft. Doch nun wird das Land wieder eine Regierung bekommen, die sich den Finanzmärkten entgegenstemmen will. EU-Währungskommissar Olli Rehn hatte jedenfalls unmittelbar nach Bekanntwerden der neuen Haushaltsbeschlüsse gratuliert. Belgien ist auf einem guten Weg, kabelte er von seinem Amtssitz in die nur wenige hundert Meter entfernte Regierungszentrale.

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