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Kreis Dillingen: Wie ein ganzer Landkreis dem kleinen Ben hilft

Kreis Dillingen

Wie ein ganzer Landkreis dem kleinen Ben hilft

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    Der kleine Ben auf seinem Fahrrad. Das linke Bein ist von Geburt an stark verkürzt. Ben nennt es sein „Babybein“. Das Foto entstand vor der Operation Anfang Oktober.
    Der kleine Ben auf seinem Fahrrad. Das linke Bein ist von Geburt an stark verkürzt. Ben nennt es sein „Babybein“. Das Foto entstand vor der Operation Anfang Oktober. Foto: Simone Bronnhuber

    Ben hält die Fernbedienung fest in beiden Händen. Er drückt den Hebel nach oben und wartet. So lange, bis das kleine schwarze Auto unter dem Bett heraus saust und gegen den Schrank knallt.

    Er muss ja so viel liegen.

    Zahlreiche Operationen

    Ben Kirschke ist am 20. Oktober 2010 zur Welt gekommen. Ein junges Leben, in dem er schon zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen musste. Der Grund dafür hat einen fürchterlich komplizierten Namen: Proximal femoral focal deficiency (PFFD) mit Fibulaaplasie. Auf Deutsch: Sein linker Oberschenkel ist stark verkürzt, der Hüftkopf, der Schenkelhals und der Oberschenkelknochen sind zudem nicht miteinander verbunden. Außerdem fehlt Ben der Wadenbeinknochen, und der Fuß ist auch noch zur Seite abgeknickt. Für die Eltern war die Diagnose ein Riesenschock. Es hatte doch geheißen, sie würden einen gesunden Jungen zur Welt bringen. Aber ihr Ben war nicht gesund und ist es auch vier Jahre später nicht. Sein „Babybein“, so nennt der kleine, tapfere Kerl sein linkes Bein, ist immer noch stark verkürzt.

    Aber es gibt Hoffnung.

    Ben lebt mit seinen Eltern in Blindheim, einem kleinen Dorf im Landkreis Dillingen. Dort geht er in den Regelkindergarten, eine spezielle Integrationskraft kümmert sich um den quirligen Blondschopf. Wenn er draußen ist, trägt Ben immer eine Orthoprothese, mit ihr kann er kurze Strecken laufen. „Aber wir müssen sie mehrmals am Tag runtermachen, weil er darunter schwitzt. Außerdem ist schon alles wund“, erzählt Mama Juliane.

    Seltene Krankheit

    Weil jährlich in Deutschland maximal fünf solcher Fälle bekannt werden, sind die Erfahrungen in der Medizin entsprechend gering. Davon zumindest ging Familie Kirschke lange Zeit aus. Die Perspektiven, die ihnen für ihren Sohn mitgeteilt wurden, waren niederschmetternd: Amputation oder ein Leben im Rollstuhl. Das wollten die jungen Eltern nicht akzeptieren. Sie suchten Hilfe, weltweit. Und wurden in Dr. Dror Paley fündig.

    Paley, ein amerikanisch-kanadischer Arzt aus Florida, ist anerkannter Spezialist auf dem Gebiet der Rekonstruktion und Verlängerung von Gliedmaßen. Er gilt als der Fachmann auf dem Gebiet. Kirschkes nahmen Kontakt zu ihm auf. Und er machte ihnen Mut. „Er schaute sich alle Unterlagen an und sagte uns, dass er Ben auf zwei Beine stellen kann.“

    Operation kostet rund 40000 Euro

    Doch es gab einen Haken. Eine Operation durch Dror Paley und sein Team kostet rund 40000 Euro. Zwei OPs sind auf jeden Fall notwendig. Macht 80000 Euro. Nur war die Krankenkasse nicht bereit zu zahlen. Die Familie brauchte Geld, das sie nicht hatte.

    Das ist, wenn man so will, der Anfang einer wunderbaren Geschichte. Am 18. Juni berichtete die Donau-Zeitung, eine Lokalausgabe unserer Zeitung, erstmals über das Schicksal des kleinen Buben. Und löste damit eine beispiellose Hilfsbereitschaft im Landkreis Dillingen und darüber hinaus aus.

    Da ist etwa Leon, sechs Jahre alt, aus dem kleinen Ort Weisingen. Er hat für Ben sein Sparschwein geschlachtet und damit sogar auf einen lang gehegten Wunsch verzichtet. Eigentlich wollte Leon für ein eigenes, großes Fahrrad sparen. Aber als ihm seine Mama von Ben erzählt hatte, warf er seine Pläne über Bord. Leon zog los und bettelte zusätzlich bei Oma, Opa, Tante, Onkel und Nachbarn. 127,75 Euro sammelte er ein. „Ben muss Fußball spielen können“, sagt Leon.

    Oder der Höchstädter Fischerverein. Beim traditionellen Schafkopfturnier zog er bei jedem Kartler vom Startgeld zwei Euro ab.

    Oder die Grundschüler in Schwenningen. Sie organisierten einen Spendenlauf unter dem Motto „Wir laufen für Ben!“. 2791 Euro kamen zusammen.

    Und so ging es weiter. Firmen sammelten bei ihren Mitarbeitern, Schüler organisierten Feste, Geburtstagskinder verzichteten auf Geschenke, Kinder opferten ihre Spardosen. Alles, um dem kleinen Ben zu helfen. Alles, um ihm seinen Traum zu erfüllen, ein ganz normaler Junge zu sein.

    Dass die Familie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit ging, zahlte sich aus. Mehr als das. Auch, wenn es den Kirschkes schwerfiel. „Das hat uns sehr viel Überwindung gekostet. Das ist ja wie betteln“, sagt Mama Juliane. Sie kontaktierten sämtliche Stiftungen, richteten eine Internetseite ein, auf der Bens Schicksal erzählt wird, und ließen nichts unversucht, um ihrem Sohn zu helfen. „Wir wollen es schaffen, damit Ben es schaffen kann.“

    80.000 Euro an Spenden gesammelt

    Sie haben es geschafft. Nach wenigen Wochen hatte die Familie 80000 Euro an Spenden zusammen und konnte einen Termin mit Doktor Paley ausmachen. Und dann ging alles ganz schnell.

    Ben wurde am 8. Oktober in der Augsburger Hessing-Klinik für Kinderorthopädie und Neuroorthopädie operiert. Sei zwei Jahren ist der Blindheimer Bub dort Patient. Unter der Leitung von Paley wurde die komplizierte Oberschenkelkorrektur, kombiniert mit einer Stabilisierung von Hüfte und Kniegelenk, in einem sechsstündigen Eingriff vorgenommen. Er baute das Bein mit speziellen Implantaten auf. Paley wurde dabei vom Augsburger Chefarzt Dr. Andreas Forth und dessen Team unterstützt. Die Augsburger kümmern sich nun um die Nachbehandlung und sind dabei in engem Kontakt mit dem Kollegen in den USA.

    Forth sagt: „Ben ist ein ganz besonderer Fall. Solch eine komplexe Operation ist eine Rarität, und jetzt bin ich auch schon über 20 Jahre in der Hessing-Klinik.“ Die einzelnen OP-Schritte, 50 an der Zahl, seien einzeln nicht so komplex, aber in ihrer Gesamtheit absolut eine Seltenheit. „Paley hat in den vergangenen Jahren viele Schritte verfeinert. Das war auch für uns eine neue Situation“, sagt Forth. In sechs Stunden wurden quasi vier einzelne Operationen auf einmal gemacht – erfolgreich, sagt der Chefarzt.

    Mit dem Eingriff haben die Ärzte die Voraussetzung für zwei Möglichkeiten geschaffen: entweder für eine Prothese, die nicht mehr schmerzhaft für Ben ist, oder für weitere Operationen, bei denen das Bein gestreckt wird. In letzterem Fall wird Paley im nächsten Jahr noch einmal nach Augsburg kommen, anschließende Eingriffe übernehmen dann Forth und sein Team. Pro Streckung versprechen sich die Spezialisten bis zu zehn Zentimeter.

    Jetzt muss Ben viel liegen

    Doch so weit denkt Familie Kirschke noch nicht. Ben erst recht nicht. Erst gilt es, die nächsten Wochen zu überstehen. Sein „Babybein“ darf zunächst nicht belastet werden. Unter keinen Umständen. Deshalb muss der Vierjährige viel liegen und kann sich nur von Mama und Papa herumtragen lassen – auch wenn sich das Bein mittlerweile schon gut bewegen lässt. Ben trägt einen Gips, eine Art Attrappe, um das Bein ruhigzustellen. Dank eines Klettverschlusses kann der Gips – den Ben unbedingt in Neongelb haben wollte – leicht abgemacht und das Bein gewaschen werden. Außerdem steht mindestens drei Mal in der Woche Physiotherapie auf dem Programm. „Das Wichtigste ist, dass er schmerzfrei ist“, sagt Juliane Kirschke.

    Seit Ben wieder zu Hause ist, geht es ihm täglich besser. Damit es ihm nicht langweilig wird, kümmern sich die Eltern, die Oma und Freunde liebevoll um den kleinen Patienten, erfinden immer wieder neue Spiele und lesen ihm jeden Wunsch von den Augen ab. „Fast jeden“, sagt Juliane Kirschke und lacht.

    Auch Bens beste Freundin Anna besucht ihn regelmäßig. Gemeinsam albern die Kinder herum – so gut es für Ben eben geht. Irgendwann können die beiden vielleicht gemeinsam um die Wette laufen, Fußball spielen oder Fahrrad fahren. Frühestens in einem Jahr kann über eine erste Streckung diskutiert werden. Falls die Eltern – und vor allem der Kleine – das wollen. „Das entscheidet alles Ben, er wird zu nichts gezwungen. Das geht gar nicht.“

    Eine große Sorge haben die Eltern nun weniger. Es ist genügend Geld da, damit Doktor Paley die zweite Operation durchführen kann, falls gewünscht. Auch, weil die Krankenkasse nun doch den ersten Eingriff finanziell unterstützen will. In einem Schreiben heißt es, Recherchen und Gutachten hätten ergeben, dass Dr. Dror Paley in Bens Situation die einzige Chance auf ein schmerzfreies Leben war und ist. Dies sei aber eine absolute Einzelfallentscheidung. Der Familie wurde das wenige Tage vor der Operation so mitgeteilt – nachdem mehrere Medien über Bens Schicksal berichtet hatten.

    Im Hause Kirschke ist inzwischen ein wenig Ruhe eingekehrt. Für Ben zählt momentan nur eines: endlich wieder laufen und sich frei bewegen können. Das schwarze kleine Auto im Garten sausen lassen. Mit dem Bagger durch das Haus krabbeln. Mit Anna Fußball spielen. Ein ganz normaler Junge sein.

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