Als uns in Deutschland vor gut einem Jahr so richtig klar wurde, dass die Corona-Pandemie kein schnell vorübergehendes Ereignis, sondern eine lang anhaltende Belastung sein wird, wuchs neben der Aufregung das soziale Miteinander. Junge Leute gingen für Ältere einkaufen, Ehrenamtliche schufteten, um die Folgen der Virusausbreitung abzumildern. Es ging ein Ruck durchs Land, wie es ihn davor bei der Flüchtlingsbewegung 2015 gegeben hatte. Solidarität der Starken mit den Schwachen war damals das Gebot der Stunde, und diese so menschliche Eigenschaft hat sich auch in der Pandemie gehalten. Bis jetzt. Denn die Debatte über Lockerungen für Geimpfte droht das Erreichte einzureißen.
Freiheiten für Geimpfte widersprechen dem Gleichheitsprinzip
Wenn Geimpfte bessergestellt werden als Nicht-Geimpfte, zieht das die Spaltung des Landes nach sich. Die einen dürfen mehr als die anderen. Aber nicht etwa, weil sie fleißiger waren, früher aufgestanden sind oder mehr geübt haben. Nein – sie sind einfach dran gewesen und haben die Spritze eher bekommen als andere. Geimpft zu sein ist keine Leistung und sollte schon von daher nicht extra belohnt werden. Solidarität hingegen ist ein wesentliches Merkmal unserer Gesellschaft. Wir lassen Menschen mit einem körperlichen Handicap nicht hilflos an der Bahnsteigkante stehen. Wir kümmern uns und warten auf die anderen.
Die Befürworter der Lockerungen berufen sich aufs Grundgesetz und meinen, wer andere nicht mehr anstecken kann, soll seine Freiheiten zurückbekommen. Aber mal abgesehen davon, dass man diese vermeintlichen Freiheiten gerade ohnehin nicht ausleben kann, weil Theater und Restaurants geschlossen sind – in der Verfassung steht neben dem Freiheitsbegriff der von der Gleichheit!
Lockerungen sollte es dann geben, wenn alle von ihnen profitieren können
Die Regierung allein hat sich im Corona-Kampf trotz aller Bemühungen oft als zu schwach erwiesen, um die Lösung von oben herab vorzugeben. Die Gesellschaft hielt als Regulativ dagegen und sollte es auch hier tun.
Niemand ist verpflichtet, Lockerungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Solidarität an dieser Stelle steht uns gut zu Gesicht und ist auch deswegen nicht zu viel verlangt, weil sie keine unzumutbare Härte darstellt. Wenn alles seinen Gang geht, sind in ein paar Wochen so viele Menschen geimpft, dass alle ihre Freiheiten zurückbekommen können. Gemeinsam.
Dieser Text ist Teil eines Pro & Kontras. Lesen Sie hier den anderen Teil: Solidarität heißt, Geimpften mehr Freiheiten zu gönnen