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Konflikte: Vormarsch der Taliban: In Afghanistan regiert nur noch die Angst

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Vormarsch der Taliban: In Afghanistan regiert nur noch die Angst

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    Taliban-Kämpfer halten an einem Kontrollpunkt in der Stadt Kundus Wache. Die militanten Islamisten haben in den letzten Wochen ihren Vorstoß in weiten Teilen Afghanistans verstärkt. Der Westen schaut hilflos zu.
    Taliban-Kämpfer halten an einem Kontrollpunkt in der Stadt Kundus Wache. Die militanten Islamisten haben in den letzten Wochen ihren Vorstoß in weiten Teilen Afghanistans verstärkt. Der Westen schaut hilflos zu. Foto: Abdullah Sahil, dpa

    Ausgerechnet Kundus. Ausgerechnet die Stadt, die wie keine andere für den deutschen Einsatz in Afghanistan stand, ist gefallen. Hier befand sich das „Camp Pamir“ der Bundeswehr. Hier waren noch im letzten Jahr rund hundert Ausbilder in

    Jetzt stellt sich diese Frage nicht mehr. Am Sonntag eroberten die radikalislamischen Taliban-Milizen Kundus. Es ist die erste große Provinzhauptstadt, die seit dem Abzug der US Truppen fällt – und der vorläufige Höhepunkt eines Siegeszuges, mit dem die

    Bundeswehrsoldaten bei einem Einsatz nahe Kundus.
    Bundeswehrsoldaten bei einem Einsatz nahe Kundus. Foto: Maurizio Gambarini, dpa

    Die Amerikaner sind drauf und dran, ihre letzten Truppen zu evakuieren. Die Deutschen haben das Land schon vor Wochen verlassen. Und jetzt reisen auch noch die meisten Zivilisten und Mitarbeiter internationaler Organisationen aus. Die Afghanen bleiben sich selbst überlassen. 20 Jahre nachdem Deutschland 2001 im Schlepptau der Amerikaner in den Hindukusch zog, droht das Land zurück in die Finsternis zu fallen, in der es sich vor dem Einmarsch des Westens befunden hatte.

    Ein deutscher Stammtisch in Kabul

    In Kabul, der Hauptstadt, herrscht eine seltsame Mischung aus Ruhe und Anspannung. Es ist, als ob jeder auf den kommenden Sturm warten würde. Ellinor Zeino, die Bürochefin der Konrad-Adenauer-Stiftung, ist die einzige verbliebene deutsche Stiftungsleiterin in der Stadt. „Ich schaue von Tag zu Tag“, sagt sie. „Man hat ja keine Ahnung, was als Nächstes passiert.“ Zeino sitzt auf gepackten Koffern. Wenn sich die Lage verschlimmere, wird die Stiftung ihr Büro schließen und ins Ausland verlegen.

    In ihrem Garten lädt sie aber immer noch jeden Monat zum deutschen Stammtisch. Dann kommen alle, die noch da sind, reden über die Probleme im Land und freuen sich auf ein üppiges Büfett. Über ihnen kreisen die Helikopter der abziehenden Amerikaner. Organisiert wird der Stammtisch im Garten der Adenauer-Stiftung von Gulrahim Safi, einem schnauzbärtigen Deutsch-Afghanen aus Berlin. „Deutschland und Afghanistan verbindet vieles. Die Deutschen haben hier gute Arbeit geleistet“, sagt Safi, der im afghanischen Bildungsministerium arbeitet. „Deshalb ist es wichtig, die Kontakte auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.“

    Wie das gehen soll, bleibt unklar. Die Taliban rücken weiter vor. Trotzdem hofft Safi, dass die Islamisten nicht wieder das ganze Land beherrschen und in die Isolation treiben werden wie in den 90ern. „Ich glaube nicht, dass die Taliban alle Städte erobern“, sagt er. „Dieser Konflikt lässt sich nicht mit Gewalt lösen. Zudem können auch die Taliban dieses Land nicht regieren ohne gebildete Leute und Kontakte zum Ausland.“ Safi glaubt, man hätte Teile der Islamisten schon früher aus einer Position der Stärke heraus einbinden sollen. Jetzt ist es dafür zu spät. Trotzdem macht er weiter: „Ich kann nicht einfach so weggehen“, sagt er. „Ich bin zwar Deutscher, aber auch Afghane.“

    Immer mehr Menschen fliehen aus dem Land

    Inzwischen könnte jeder der deutschen Stammtische der letzte sein. Nur wenige Leute kommen noch regelmäßig: Diplomaten, die normalerweise in ihren Hochsicherheitsbunkern sitzen, oder ein paar wenige Akademiker, die noch nicht abgehauen sind. Die meisten der Gäste sind jedoch Männer wie der Bauunternehmer Wais Paschtun. Der 43-Jährige kam 1988 als Kind afghanischer Flüchtlinge nach Deutschland und besitzt die doppelte Staatsangehörigkeit. Wie so viele kehrte er nach dem US-Einmarsch im Jahr 2001 in die Heimat seiner Eltern zurück, um sein Glück zu versuchen.

    Die Zahl der Binnenflüchtlinge in Afghanistan ist seit Anfang Mai massiv gestiegen.
    Die Zahl der Binnenflüchtlinge in Afghanistan ist seit Anfang Mai massiv gestiegen. Foto: Rahmat Gul, dpa

    „Ich habe all mein Geld in Afghanistan investiert“, sagt Paschtun, der in der Nähe von Hamburg aufgewachsen ist. „Das bekomme ich nie mehr raus.“ Zeitweise beschäftigte er in seiner Baufirma tausende Mitarbeiter. Kabul sei mal eine Goldgrube gewesen. Damals, in den Nullerjahren, als plötzlich Milliardenbeträge in die Stadt gepumpt wurden. Nun hat die düstere Gegenwart Paschtuns Leben eingeholt. Längst ist sein Haus voller Flüchtlinge, weil seine Verwandtschaft aus der Stadt Kandahar vor den Taliban zu ihm nach Kabul geflohen ist. Und als einflussreicher Unternehmer, der auch für die US-Truppen tätig war und Zugang bis in höchste Regierungskreise hat, steht er auf der Abschussliste der Islamisten. „Wenn die Taliban nach Kabul kommen, dann bin ich tot“, sagt er. „Mein Vater redet mir ins Gewissen: Junge, beweg deinen Arsch da raus.“

    Immerhin kann Wais Paschtun mit seinem deutschen Pass ausreisen. Die Mehrheit der Afghanen hat diese Möglichkeit nicht – und nach dem Fall von Kundus wird deren Lage immer kritischer. Zu ihnen gehören auch all die Ortskräfte der Bundeswehr, die einst in Städten wie Kundus oder Masar-i-Sharif für die deutschen Truppen gekocht oder übersetzt haben.

    Die Bundeswehr lässt ihre Helfer im Stich

    Immer noch stecken Tausende von ihnen in Afghanistan fest und warten auf ein Visum. Zwar hat die Bundesregierung angekündigt, sich um die Fälle kümmern zu wollen. Aber der Prozess läuft quälend langsam. „Es ist beschämend, wie unsere Regierung damit umgeht,“ sagt Marcus Grotian. Er war 2011 selbst als Bundeswehrsoldat in Kundus stationiert und betreibt inzwischen zwei „Safe-Houses“ in Kabul, wo hunderte ehemalige afghanische Ortskräfte darauf warten, endlich eine Ausreisegenehmigung zu bekommen. Da sie für die ausländischen Militärs gearbeitet haben, gelten viele von ihnen als gefährdet.

    Derweil rücken die Taliban immer weiter auf Kabul vor. Bereits jetzt werden deren Kämpfer in der Stadt vermutet. Letzte Woche schlugen sie bereits zu, griffen das Haus des Verteidigungsministers an und erschossen den Sprecher der Regierung. „Ich glaube nicht, dass die Zeit reicht, um den Ortskräften Visa auszustellen“, sagt Grotian daher. „Es ist ein Desaster.“

    Menschen fahren an den Trümmern von Geschäften in Kundus vorbei. Die afghanische Großstadt wurde bei der Eroberung durch die Taliban stark zerstört.
    Menschen fahren an den Trümmern von Geschäften in Kundus vorbei. Die afghanische Großstadt wurde bei der Eroberung durch die Taliban stark zerstört. Foto: Abdullah Sahil, dpa

    In der Hauptstadt macht sich nun eine Mischung aus Tristesse und Verzweiflung breit. Man fühle sich vergessen und auch verraten, sagt etwa die Journalistin Schuhofa Dastgeer, die sich noch gut an ihre Jugend unter der Taliban-Herrschaft der 90er Jahre erinnern kann. Damals wurde sie heimlich von ihren Eltern unterrichtet. Heute arbeitet sie als Moderatorin für Tolo-News, dem wichtigsten unabhängigen Nachrichtensender des Landes.

    Für eine in der Öffentlichkeit stehende berufstätige Frau wie Dast-geer könnte die Zukunft unter den Islamisten düster werden. Trotzdem findet sie es nicht grundsätzlich falsch, dass sich die ausländischen Truppen aus Afghanistan zurückziehen. „Irgendwann müssen wir auf eigenen Beinen stehen. Aber der Zeitpunkt war falsch und die Amerikaner und Europäer sind zu schnell gegangen. So haben sie das Land den Taliban ausgeliefert.“

    Die Menschen haben Angst um ihr Leben

    Man könne das jetzt alles rauf und runter analysieren, sagt der Politologe Omar Sharifi, der ein amerikanisch-afghanisches Studienzentrum leitet. „Es gibt viele Gründe, warum es nicht gelungen ist, hier einen funktionierenden Staat aufzubauen, und warum jetzt alles zusammenbricht. Aber das ist nicht mehr wichtig. Es geht jetzt darum, dass wir hier sterben werden.“

    Sharifi sitzt im Garten seines Hauses, umgeben von hohen Mauern aus Stacheldraht. In den 90er Jahren hatten ihn die Taliban einst eingesperrt. Vor kurzem wurde er sogar angeschossen. Und am Sonntag musste er dann erfahren, dass sein Elternhaus in Kundus niederbrannte, als die Taliban dort einmarschierten.

    Sharifi gehört zu jener Schicht Afghanen, die gebildet und weltoffen ist, ohne aber die Verbindung zu ihrem Land verloren zu haben. Ein Visum hat er bisher keines. So kann er nur ausharren und abwarten, was geschehen wird. Illusionen macht er sich keine. „Wir haben es hier mit einer religiös-faschistischen Bewegung zu tun, die keine Gnade kennt“, sagt er. All die Ausländer, Doppelstaatler und NGO-Mitarbeiter, ist Sharifi überzeugt, würden Afghanistan demnächst verlassen. Die Taliban würden sie niemals dulden. „Und trotzdem“, sagt er in die Kabuler Nacht hinein, die inzwischen über seinem Garten angebrochen ist, „müssen wir den Kontakt zur Außenwelt unbedingt aufrechterhalten. Nur so kann Afghanistan irgendwie überleben. Denn wenn wir vergessen werden, dann sind wir endgültig tot“.

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