Auf afghanische Flüchtlinge wartet nach der beschwerlichen Reise aus ihrem Heimatland über den Iran nach Westen eine neue Gefahr: die sofortige Zwangsabschiebung aus der Türkei. „Wenn die türkischen Grenzer uns erwischen, prügeln sie uns mit Stöcken und schicken uns zurück in den Iran“, sagte ein Afghane kürzlich dem türkischen Journalisten Rusen Takva in der osttürkischen Provinz Van.
Diese illegalen Push-Backs sind neu für die Türkei und markieren eine radikale Wende in der Flüchtlingspolitik des Landes: Nachdem die Türkei – auch auf Wunsch Europas – rund fünf Millionen Schutzsuchende aufgenommen hat, will sie ihre Grenze jetzt schließen und mit der Rückführung von Flüchtlingen in ihre Heimatländer beginnen. Auch Europa könnte die Folgen dieses Schwenks spüren.
Türkei baut unter Hochdruck Mauern und Wachtürme an der Grenze zum Iran
An der Grenze zum Iran baut die Türkei unter Hochdruck an Mauern, Wachtürmen und Überwachungsanlagen. Damit sollen Afghanen ferngehalten werden, die seit der Machtübernahme der Taliban zu tausenden über den Iran in die Türkei fliehen. Nach Angaben des Gouverneursamtes in Van wurden seit Jahresbeginn mehr als 27.000 Menschen wegen der illegalen Einreise aus dem Iran festgenommen. Weitere 34.000 wurden demnach am Grenzübertritt aus dem Iran gehindert. Große Teile der türkischen Grenze zu Syrien sind bereits mit Mauern gesichert.
Hunderttausende Afghanen leben schon in der Türkei, dazu fast vier Millionen Geflüchtete aus Syrien. Bisher setzte Präsident Recep Tay-yip Erdogan auf eine „Politik der offenen Tür“, die insbesondere den Syrern eine sichere Bleibe in der Türkei versprach. Doch jetzt kann sich der Präsident nicht mehr darauf verlassen, dass die Türken bei der Aufnahme weiterer Flüchtlinge mitmachen: Die Stimmung ist gekippt. Bei ausländerfeindlichen Krawallen in der Hauptstadt Ankara in diesem Sommer plünderte ein Mob die Geschäfte von Syrern im Arbeiterviertel Altindag und zündete Autos an.
Für Erdogan wird seine bislang liberale Flüchtlingspolitik zunehmend zum Problem. Der Präsident setzt auf Unterstützung der EU. Es wird das Hauptthema, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag die Türkei besucht und mit Präsident Erdogan unter anderem über Migration und die Aufnahme von Flüchtlingen vor allem aus Syrien in der Türkei sprechen will.
Die Ausschreitungen von Altindag seien kein Sonderfall, sagt der Demoskop Bekir Agirdir vom Meinungsforschungsinstitut Konda über das Klima gegenüber Flüchtlingen. „Nach unseren neuesten Erhebungen liegt die Ablehnung heute bei 70 bis 80 Prozent, und zwar quer durch die Gesellschaft.“
Inzwischen wurden eine halbe Million syrischer Kinder in der Türkei geboren
Zunächst sahen die meisten Türken die Unterbringung und Versorgung der syrischen Flüchtlinge als vorübergehendes Problem. Doch inzwischen wurden eine halbe Million syrischer Kinder in der Türkei geboren, und die Notlösung des „vorübergehenden Schutzes“ reicht nicht mehr, sagt Meinungsforscher Agirdir: Die Regierung habe versäumt, ein Konzept zur Integration der Syrer in die türkische Gesellschaft zu entwickeln. Das schafft Ressentiments in der türkischen Bevölkerung, auch an der Wählerbasis von Erdogans Partei AKP.
Das Flüchtlingsthema ist zum Zugpferd der größten Oppositionspartei geworden, der kemalistischen CHP, die sich als sozialdemokratisch betrachtet, aber kräftig Stimmung gegen die Zuwanderer macht. In der nordwesttürkischen Stadt Bolu kündigte der CHP-Bürgermeister Tanju Özcan an, er werde die kommunalen Wasser- und Abfallgebühren für Ausländer um das Zehnfache erhöhen. „Warum tun wir das? Weil wir wollen, dass sie gehen!“
CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu nennt das Flüchtlingsproblem „eine Schicksalsfrage für unser Land“ und nennt Erdogan eine „Marionette“ der Europäer. Dabei hatte Erdogan brutal versucht, die Unterstützung der EU einzufordern, und schickte im März vergangenen Jahres tausende Flüchtlinge an die griechische Grenze. Der Versuch scheiterte: Griechenland schlug die Flüchtlinge mit europäischer Rückendeckung und brachialer Gewalt zurück. In der EU verspielte Erdogan damit guten Willen und Ansehen für die Flüchtlingspolitik der Türkei.
Beim EU-Gipfel soll die Neuauflage des Flüchtlingspakts mit der Türkei beschlossen werden
Beim EU-Gipfel Ende Oktober sollte eigentlich die Neuauflage des Flüchtlingspakts mit der Türkei beschlossen werden. Inzwischen ist ungewiss, ob Erdogan sich die Fortschreibung des Abkommens innenpolitisch noch leisten kann. CHP-Chef Kilicdaroglu kritisiert den geplanten neuen Vertrag als „Schmiergeldpaket“. Erdogan fordert nun internationale Unterstützung für die freiwillige Rückführung syrischer Flüchtlinge in jene Teile Syriens, die nicht vom Regime in Damaskus kontrolliert werden.
In ihren Einflusszonen in Syrien will die Türkei eine neue Infrastruktur für Rückkehrer aufbauen. Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser sollen entstehen, und Europa soll bei der Finanzierung helfen. Die Europäer lehnen die Pläne aber ab, würden Hilfen für einen Wiederaufbau in Nordsyrien doch auf eine implizite Anerkennung der türkischen Besatzung dort hinauslaufen – bisher ein Tabu für die EU. Ankara hofft, dass es sich die EU noch einmal überlegt. Die „offene Tür“ ist jedenfalls zugeschlagen.