Konflikte, deren Ursachen nicht beseitigt oder nur abgemildert werden, flammen meist immer wieder auf. Dafür ist die militärische Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan, die seit Sonntagmorgen im südlichen Kaukasus tobt, ein fast schon klassisches Beispiel. Wie sich die Kämpfe in und um die Unruhe-Region Berg-Karabach entwickeln, ist von außen nur schwer zu beurteilen. Allerdings gibt es Hinweise auf erste Stellungsgewinne aserbaidschanischer Truppen. Als sicher gilt, dass auf beiden Seiten insgesamt bereits weit über 200 Soldaten und Zivilisten getötet worden sind.
Das beschwört böse Erinnerungen herauf, denn im offenen Krieg von 1991 bis 1994 zwischen dem christlich geprägten Armenien mit gut drei Millionen Einwohnern und dem islamisch dominierten Aserbaidschan – circa zehn Millionen Menschen – gab es bis zu 40.000 Opfer. Viele Dörfer wurden zerstört oder bei Massakern ausgelöscht. Zwölf Jahre später starben bei schweren, viertägigen Gefechten rund 180 Menschen. Im Juni 2019 gab es bei Feuergefechten mehr als ein bis zwei Dutzend Tote.
Bereits 1918 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen um Berg-Karabach
Der Hass hat eine lange Geschichte. Bereits im Jahr 1918, als sich Armenien und Aserbaidschan für unabhängig erklärten, erhoben beide Länder Anspruch auf Berg-Karabach: Es kam zur blutigen Auseinandersetzung. Mit der Gründung der Sowjetunion wurde der Konflikt offiziell beendet, ohne gelöst worden zu sein. In den Jahren des schleichenden Zerfalls der Sowjetunion trat die religiös-nationalistisch geprägte Feindschaft wieder zutage.
Die Führung der armenischen Bevölkerungsmehrheit in Berg-Karabach hatte sich 1988 von Aserbaidschan losgesagt. Fast folgerichtig brach nach Zusammenbruch des Sowjetreiches ein Krieg aus. An dessen Ende 1994 hatte Baku die Kontrolle über Berg-Karabach an Armenien verloren. Nahezu alle Angehörigen der muslimischen Minderheit flohen aus der Region. Völkerrechtlich allerdings gehört das Gebiet mit geschätzten 140.000 Einwohnern nach wie vor zu Aserbaidschan. Doch die wechselnden Regierungschefs in der armenischen Hauptstadt Eriwan ignorierten alle Resolutionen der UN, sich aus dem Gebiet zurückzuziehen. Verhandlungen verliefen im Sande.
Ein Blick auf die Karte zeigt, wie schwierig die Lage allein schon geografisch ist. Noch komplizierter wird der Konflikt durch die Rolle, die die jeweiligen Schutzmächte der verfeindeten Staaten spielen. Russland unterhält in Armenien große Militärstützpunkte. Die Türkei ist traditionell mit Baku eng verbunden. Das hat historische und religiöse Gründe. Eine wichtige Rolle spielt zudem, dass Aserbaidschan über große Vorkommen von Öl und Gas verfügt. Auch in der Türkei gibt es Gerüchte, dass Ankara das ohnehin schon hochgerüstete Aserbaidschan seit Juli mit Waffen und Militärexperten massiv unterstützt.
Erst im Juli fand ein türkisch-aserbaidschanisches Militärmanöver statt
Erst im Juli hatte es ein groß angelegtes gemeinsames Militärmanöver gegeben. Die Türkei stehe „mit allen Mitteln und ganzem Herzen“ an Aserbaidschans Seite, hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärt und allein Eriwan für die Kämpfe verantwortlich gemacht. Das Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien ist mit Blick auf den Völkermord an Armeniern im Osmanischen Reich von 1915/16 – den Ankara bis heute bestreitet – auf unabsehbare Zeit schwer belastet.
Sicher ist, dass es Provokationen auf beiden Seiten gab. Viele Indizien sprechen allerdings dafür, dass der aserbaidschanische Staatschef Ilham Alijew, der sein hoch verschuldetes Land autoritär regiert, den entscheidenden Angriffsbefehl gegeben hat. In der Bevölkerung wird Berg-Karabach als andauernde Schmach empfunden, zugefügt durch den militärischen Erfolg des ärmeren und kleineren Nachbarn Anfang der 1990er Jahre. Eine Schande, an die das ins eigene Territorium hineinragende, von Armenien verwaltete und kontrollierte Gebiet ständig erinnert. Eine Rückeroberung wäre daher ein Triumph für den Diktator. Ein Triumph, der gefeiert würde nicht zuletzt von den vielen zehntausend Aserbaidschanern, die aus den von Armenien besetzten Gebieten vertrieben worden sind.
Moskau will eine weitere Eskalation offensichtlich vermeiden
Moskau hat die offensive Parteinahme Ankaras für Baku umgehend kritisiert. Sie sei geeignet, Öl ins Feuer zu gießen, hieß es aus dem Kreml. Es gebe Hinweise, dass auch Söldnern aus den Kriegsgebieten in Syrien und Libyen an den Kämpfen teilnehmen. Welche Seite fremde Kämpfer einsetzt, teilte das russische Außenministerium allerdings nicht mit. Spürbar ist, dass Moskau bemüht ist, eine weitere Eskalation zu vermeiden, und forderte die Türkei auf, Aserbaidschan zu einer Waffenruhe und Verhandlungen zu bewegen.
Doch die Zeichen stehen auf Sturm. Beide Seiten haben die Mobilmachung angeordnet und ihre Propaganda-Maschinen angeworfen. Das Zerstörungspotenzial im Südkaukasus ist gewaltig.
Brüssel mahnt seit Tagen dazu, die Waffen ruhen zu lassen. Bisher vergebens. Jetzt rächt sich, dass die EU den schwelenden Krisenherd aus den Augen verloren hat. Eine diplomatische Chance könnte darin liegen, sich zunutze zu machen, dass auch Moskau in einem offenen Krieg eine Bedrohung eigener Interessen sehen dürfte.
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