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Konflikt: So ist das Leben der ukrainischen Soldatinnen im Donbass-Krieg

Konflikt

So ist das Leben der ukrainischen Soldatinnen im Donbass-Krieg

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    Die 28-jährige Lera in Ausrüstung. Sie verpflichtete sich im Jahr 2019. Nach der Grundausbildung ging sie mit ihrer Brigade in verschiedene Abschnitte längs der Frontlinie.
    Die 28-jährige Lera in Ausrüstung. Sie verpflichtete sich im Jahr 2019. Nach der Grundausbildung ging sie mit ihrer Brigade in verschiedene Abschnitte längs der Frontlinie. Foto: Till Mayer

    Der Herbst besitzt in diesen Abendstunden eine eigentümliche Schönheit. Dicker Nebel über den Wiesen, die sich kilometerweit strecken. Eine graue, wabernde Masse, die meterhoch über die Felder fließt. Darüber die Sterne. Das Licht des Vollmonds zeichnet die Umrisse von kahlen Bäumen und Gestrüpp als schwarze, unwirkliche Konturen.

    „Schön ist das“, sagt Lera und schaut kurz auf. Dann tippt sie in ihr Smartphone, das ihr Gesicht in der Dunkelheit beleuchtet. Ein gutmütiges Gesicht, das lange strohblonde Haare umschließen. Rund 300 Meter weiter, Richtung Osten, wäre das Telefonat lebensgefährlich. Dort sind die Schützengräben ihrer Einheit, und ein leuchtendes Smartphone in der Dunkelheit wäre eine Einladung an feindliche Scharfschützen. Der dicke Nebel gibt ihnen Schutz.

    Der Krieg in der Ukraine schien in Deutschland in Vergessenheit geraten zu sein

    Lera, 28 Jahre alt, Soldatin der ukrainischen Armee, hier im Nebel über den Wiesen, in Uniform und mit Kalaschnikow in Händen – auch sie eine unwirklich anmutende Erscheinung. Eine junge Frau, die in einem Krieg mitten in Europa kämpft. Einem Krieg, der in Deutschland in Vergessenheit geraten zu sein scheint.

    Dabei vergeht kaum eine Woche, in der die ukrainische Armee nicht Gefallene und Verwundete von ihren Stellungen im Osten des Landes meldet. Nicht selten beklagen die Ukrainer dabei im Wochentakt zwischen 50 bis zu 100 Verstöße gegen die geltende Waffenstillstandsvereinbarung. Prorussische Separatisten und russische Medien wiederum brandmarken die Ukrainer als Provokateure. Nur zwei Flugstunden von Deutschland entfernt hat das Sterben nicht aufgehört. Auch wenn es aus den Nachrichtensendungen hierzulande verschwunden ist. Mehr als 13.000 Tote lautet bisher die Bilanz des „bewaffneten Konflikts“ zwischen den ukrainischen Truppen und den von Russland gestützten Separatisten.

    Einer der Toten ist der Chef der Sanitäter von Leras Brigade. Er fiel erst vor wenigen Monaten. Lera hat ihn sehr geschätzt. „Die Separatisten achten unseren Schutz als Sanitäter oft genug nicht“, klagt die junge Frau. Und sie ahnt: Es könnte bald wieder mehr Tote geben. Beobachter befürchten, dass die Inbetriebnahme der Nordstream-2-Pipeline den Konflikt anheizt. Russland braucht die Ukraine dann nicht mehr als Transitland für das eigene Erdgas. Für Russlands Präsident Wladimir Putin würde demnach eine Hemmschwelle fallen.

    Erst am Dienstag widersprach Kremlsprecher Dmitri Peskow einem Bericht der US-Zeitung Washington Post, in dem es um einen – echten oder vermeintlichen – Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze ging. Peskow verbat sich eine Einmischung in innere Angelegenheiten und sagte: „Die Verlegung unserer Militärtechnik oder von Armee-Einheiten auf russischem Territorium ist ausschließlich unsere Sache.“ Und fügte an, was eine Soldatin wie Lera als Hohn empfinden muss: Russland habe „niemals irgendjemanden bedroht und bedroht niemanden“. Es werde aber „weiterhin Maßnahmen zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit ergreifen“.

    Der ukrainische Präsident Selenskyj hat mit US-Präsident Biden über Donbass gesprochen

    Das Verteidigungsministerium in Kiew selbst hatte am Montag erklärt, keine neuen russischen Truppenbewegungen zur Grenze hin registriert zu haben. Doch die aktuelle, nach wie vor angespannte Lage ist Thema – auf höchster Ebene. So twitterte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, er habe in Glasgow am Rande der Weltklimakonferenz mit US-Präsident Joe Biden über die ostukrainische Region Donbass gesprochen, die prorussische Separatisten kontrollieren.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch in der vom Krieg betroffene Region Donezk im Osten der Ukraine.
    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch in der vom Krieg betroffene Region Donezk im Osten der Ukraine. Foto: Uncredited, Ukrainian Presidential Press Office, AP, dpa (Archivbild)

    Hier, auf dem kleinen Holzsteg, der über einen Entwässerungskanal führt, sind Glasgow oder Moskau weit weg. Und Lera vor Scharfschützen sicher. In einem schmalen Waldstreifen dahinter haben sich die ukrainischen Soldaten Erdbunker gegraben. Grobe Bretterwände, mächtige Stämme und Plastikplanen haben sie in den Boden gerammt. Sie haben gewuchtet, gehackt, geschaufelt und gehämmert. An der niedrigen Decke der Bunker geben nackte Glühbirnen ein schummriges Licht, an einer Wand lehnen Kalaschnikows, Schutzwesten hängen neben Hochbetten. Ein kleiner Bollerofen sorgt für Wärme in den immer kälter werdenden Herbstnächten. So also leben die, die im Donbass-Gebiet kämpfen.

    Beidseitig der Schützengräben und Stellungen, die sich parallel über hunderte von Kilometern durch die Oblast Luhansk, eine der Verwaltungseinheiten der Ukraine, und die Oblast Donezk fressen, haben sie sich in einem Stellungskrieg eingegraben. Seit sieben Jahren – im März 2014 annektierte Russland völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim – wird dort mit unterschiedlicher Intensität gekämpft. Jetzt verwandelt der Herbst die Schützengräben und Gänge in Schlammgruben. Die Stiefel schmatzen im tiefen Morast, bis der Winter das Erdreich gefrieren lassen wird. An Leras Gummistiefeln kleben gewaltige Erdbrocken. Sie telefoniert nun mit ihrer Familie. Sie spricht leise, es ist fast ein Flüstern.

    Zwei Töchter hat Lera: Sofia, zehn Jahre, und Kira, fünf Jahre. Oft sieht sie sie für Monate nicht. Als sie von ihnen erzählt, kommen der Soldatin die Tränen. „Es tut weh, hier von ihnen zu sprechen. Sie fehlen mir jeden Moment“, sagt sie, mittlerweile an einem aus Palettenbrettern genagelten Tisch im Küchenbunker mit einer Blechtasse voll dampfendem Kaffee vor sich. Ihr Küchentisch zu Hause wird ihr mit jedem Monat, jedem Jahr an der Front ein Stück fremder. Ihr Mann kümmert sich um die Kinder, und, das ist zwischen den Sätzen zu hören: Er ist nicht glücklich, dass seine Frau als Soldatin an der Front dient. Sie hat sich freiwillig verpflichtet.

    Ukraine: Soldatin Lera musste mit ihrer Familie vor Separatisten fliehen

    Zuvor unterrichtete die junge Frau Geschichte. Die Geschichte ihrer jungen Nation ist ihr besonders wichtig. Sie erzählte ihren Schülerinnen und Schülern davon, dass 1917 die Volksrepublik Ukraine ausgerufen wurde. „Aber vor allem, wie wir 1991 endlich unsere Unabhängigkeit erreicht haben. Für sie müssen wir jetzt schon wieder kämpfen“, sagt sie.

    Lera musste mit ihrer Familie fliehen. Ihre Heimatstadt im Oblast Luhansk befindet sich unter Kontrolle der Separatisten. Aus diesem Grund wird in diesem Artikel auch nur ihr Vorname genannt. Dass Menschen frei ihre Meinung sagen können, ist Lera wichtig. „Bei den Separatisten ist das sicherlich nicht möglich“, erklärt sie. Dass Stalin, einst unter anderem Oberster Befehlshaber der Roten Armee, in den Separatistengebieten nicht selten als großer Mann gefeiert werde, findet die ehemalige Geschichtslehrerin unerträglich. „Haben die denn die Gulags vergessen, die Verfolgung und Massenmorde? Und dass er Millionen Ukrainer verhungern ließ?“ Lera schüttelt den Kopf.

    Julia gehört zu den vielen Frauen, die in der ukrainischen Armee dienen.
    Julia gehört zu den vielen Frauen, die in der ukrainischen Armee dienen. Foto: Till Mayer

    „Meine Heimat ist die Ukraine. Und in meine Heimat sind Truppen aus einem Nachbarland einmarschiert. Auf der anderen Seite stehen russische Soldaten. Ich denke, da gilt es, für sein Land da zu sein. Auch als Frau“, sagt sie. Das ist eine unverrückbare Haltung, die mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat. Sie stammt aus einer Militärfamilie: „Vater und Bruder dienen. Sie sind stolz auf mich“, sagt sie. Und verschweigt nicht, dass ihre Mutter bitter geweint habe, als sie ihr mitteilte, dass sie zur ukrainischen Armee gehe.

    Soldatinnen wie Lera nehmen in dieser einen wichtigen Platz ein. Laut offizieller Statistik dienten im Jahr 2020 genau 31.758 Frauen, das bedeutet einen Anteil von 15,6 Prozent an der Truppe. 4810 davon sind Offizierinnen. In den Schützengräben sind Frauen selten anzutreffen. Besonders als „Paramedics“, als Sanitäterinnen, sind sie im Einsatz. Wie die 33-Jährige Julia mit ihren lackierten Fingernägeln und ihrem Der-kleine-Prinz-Tattoo auf dem Arm. Oder die 21-jährige Tamila mit den bunten Blumenmustern auf den Gummistiefeln. Oder Yana, die Aufklärungsdrohnen steuert. 2013 demonstrierte sie als Teenager, 2015 hielt sie eine Kalaschnikow in ihren Händen. Auf einem Foto aus dieser Zeit blickt ein Mädchengesicht ernst unter dem Helm in die Kamera. „Dieser Krieg dauert schon so unendlich lange“, sagt sie heute.

    Lera verpflichtete sich im Jahr 2019. Bei der ukrainischen Armee bestand damals ein Bedarf im Sanitätsdienst. Nach der Grundausbildung ging die junge Frau mit ihrer Brigade in verschiedene Abschnitte längs der Frontlinie. Hier, unweit des Städtchens Volnovakha, „ist es vergleichsweise eher ruhig“, meint sie an diesem Abend.

    Ehemalige Klassenkameraden von Lera haben sich den Separatisten angeschlossen

    Doch sie hat anderes erlebt. Den Tod sah sie bereits bei ihrem ersten Einsatz. „Der verwundete Soldat starb noch bei der Evakuierung“, erzählt sie. Es war ein grausamer Start als Sanitäterin. Sie lernte bald, wie es aussieht, wenn eine Landmine jemandem ein Bein abreißt oder sich Kugeln und Schrapnelle ins Fleisch fressen. „Das sind Bilder, die ich nie vergessen werde“, sagt sie. „Der Krieg ist etwas Schlimmes.“ Aber Frauen müssten auch in schlimmen Dingen ebenso ihre Verantwortung tragen. Das gehört für Lera mit zur Emanzipation.

    In den sozialen Medien hat sie gesehen, dass sich einige ehemalige Klassenkameraden den Separatisten angeschlossen haben. „Stolz präsentieren sie sich in ihren Uniformen. Ich kann das einfach nicht nachvollziehen“, sagt sie verärgert. Sieht sie solche Bilder, wünscht sie sich, siegreich mit dem Panzer in ihre Heimatstadt einzufahren. „Dann wäre der Spuk endlich vorbei.“ Die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, werden lange nicht verheilen. Lera weiß das.

    Will sie eines Tages als Lehrerin vom Donbass-Krieg erzählen, wenn er Geschichte ist? Sie staunt über diese Frage. „Das ist so weit weg“, sagt sie nach einer Weile. Die ehemalige Geschichtslehrerin kann sich einfach nicht vorstellen, dass dieser Krieg einmal Geschichte sein wird. „Ob ich jemals wieder Lehrerin sein kann?“, fragt sie sich selbst. „Es fällt mir immer schwerer, vor Menschen zu sprechen.“

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