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Kommentar: Zehn Jahre Arabischer Frühling - die gescheiterte Revolution

Kommentar

Zehn Jahre Arabischer Frühling - die gescheiterte Revolution

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    Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling (auf dem Bild in Ägypten) zieht unser Autor eine Zwischenbilanz.
    Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling (auf dem Bild in Ägypten) zieht unser Autor eine Zwischenbilanz. Foto: Hannibal Hanschke, dpa (Archivbild)

    Ein Jahrzehnt ist es her, dass der Millionen-Jubel vom Boulevard Habib Bourguiba in Tunis über den Tahrir-Platz in Kairo bis an die Corniche von Benghazi zog. Fasziniert verfolgte die Welt, wie ein arabisches Volk nach dem anderen mit heroischem Mut versuchte, seine Diktatoren abzuschütteln.

    Ins Rollen kam das kollektive Aufbegehren am 17. Dezember 2010 in Tunesien, ausgelöst durch den Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich aus Verzweiflung anzündete und drei Wochen später starb. „Wer wissen will, wie Hoffnung aussieht, der schaue sich die Straßen Ägyptens an“, jubelte damals die bekannte ägyptische Schriftstellerin Ahdaf Soueif.

    Wie alles anfing: Eine tunesische Frau zeigt das Bild von Mohamed Bouazizi. Die Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers aus Protest gegen die Zustände in seinem Heimatland gilt als Auslöser der sogenannten Arabischen Rebellion.
    Wie alles anfing: Eine tunesische Frau zeigt das Bild von Mohamed Bouazizi. Die Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers aus Protest gegen die Zustände in seinem Heimatland gilt als Auslöser der sogenannten Arabischen Rebellion. Foto: imago (Archivbild)

    Zehn Jahre später ist alle Euphorie verflogen und aus der Riege der repressiven Staaten ist eine Achse der scheiternden Staaten geworden, ein Niedergang, den die Corona-Pandemie zusätzlich beschleunigt. Der katalytische Effekt des Arabischen Frühlings hat die Zerrüttung der arabischen Welt nur weiter vertieft.

    Arabische Autokraten erkaufen sich Gefolgschaft ihrer Landsleute

    Im Zentrum dieses Fiaskos steht der autoritäre Gesellschaftsvertrag, mit dem arabische Autokraten ihre Bevölkerung seit Jahrzehnten gefügig halten. Sie erkaufen sich die Gefolgschaft ihrer Landsleute durch staatliche Wohltaten aus der Gießkanne – flächendeckende Subventionen für Brot, Gas, Strom und Benzin sowie absurde Jobzahlen in extrem aufgeblähten öffentlichen Diensten, finanziert durch die Einnahmen aus dem Verkauf von Öl, Gas und anderen Bodenschätzen. Wer trotzdem nicht spurt, dem schicken sie ihren überdimensionierten Polizei- und Sicherheitsapparat auf den Hals.

    Die arabische Welt im Umbruch

    Seit Ende 2010 befinden sich große Teile der arabischen Welt in schweren Turbulenzen: In Ägypten wurden mittlerweile zwei Präsidenten gestürzt, Syrien schlitterte in einen blutigen Bürgerkrieg, und sowohl Tunesien als auch Libyen durchlaufen nach gewaltsamen Revolutionen schwierige Übergangsphasen.

    ÄGYPTEN: Der erste demokratisch gewählte Präsident des 80-Millionen-Einwohner-Landes, Mohammed Mursi, wurde an diesem Mittwoch nach nur einem Jahr im Amt vom Militär gestürzt. Zuvor hatte es tagelange Proteste mit dutzenden Todesopfern gegeben, wie sie in ähnlicher Weise im Februar 2011 schon Mursis Vorgänger Husni Mubarak zur Aufgabe zwangen. Während Mubarak seine Macht formal aus eigenen Stücken an das Militär abtrat, ergriffen die Streitkräfte diesmal selbst die Initiative: Sie drängten Mursi aus dem Amt, indem sie Verfassungsrichter Adli Mansur zum Übergangspräsidenten ernannten und damit vorgezogene Neuwahlen einleiteten. Mansur wurde am Donnerstag als neuer Staatschef vereidigt, gleichzeitig verhafteten die Sicherheitskräfte mehrere Anführer von Mursis regierenden Muslimbrüdern, die die wirtschaftlichen Probleme des Landes zum Ärger der Bevölkerung nicht lösen konnten.

    TUNESIEN: Hier nahm die als «Arabischer Frühling» zusammengefasste Protestwelle ihren Anfang, die etliche Länder Nordafrikas und im Nahen Osten erfasste. Der 23 Jahre lang regierende Präsident Zine El Abidine Ben Ali floh am 14. Januar 2011 außer Landes, nachdem die Selbstverbrennung eines verzweifelten Mannes den Volkszorn über wirtschaftliche Probleme entfesselte. Monate später spülten die Wahlen zur Nationalversammlung die moderate Islamisten-Partei Ennahda an die Regierungsmacht, das Parlament wählte Ben Alis Erzrivalen Moncef Marzouki zum Präsidenten. Wegen Streitigkeiten zwischen den Abgeordneten ist bis heute keine neue Verfassung verabschiedet. Neben wiederkehrenden politischen Krisen leidet das Land weiter an sozialen Unruhen und dem Machtzuwachs radikaler Islamistengruppen.

    SYRIEN: Seit 13 Jahren ist in Damaskus Präsident Baschar al-Assad an der Macht, der die Staatsführung seinerseits schon vom Vater übernommen hatte. Im März 2011 aufkeimende Proteste gegen den Autokraten wuchsen sich zu einem brutalen Bürgerkrieg aus, der Aktivisten zufolge inzwischen mehr als 100.000 Menschen das Leben gekostet hat. Nach zwischenzeitlichen Erfolgen verloren die Rebellen in den vergangenen Wochen Boden gegenüber Assads Regierungstruppen und der verbündeten Hisbollah-Miliz aus dem benachbarten Libanon. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht von knapp sechs Millionen Flüchtlingen im In- und Ausland aus, die ihre syrische Heimat infolge des Bürgerkriegs verlassen mussten und damit auch die zwischenstaatlichen Beziehungen in Nahost belasten.

    LIBYEN: Im Oktober 2011 wurde der seit Jahrzehnten regierende Machthaber Muammar al-Gaddafi getötet, gegen den Aufständische mithilfe der Luftunterstützung durch NATO-Flugzeuge einen blutigen Feldzug geführt hatten. Seitdem bemühen sich Libyens neue Übergangsbehörden um den Aufbau eines Militär- und Sicherheitsapparats, der eigenständig Recht und Ordnung wiederherstellen und den Staat vor Attacken bewaffneter Milizen schützen soll. In den vergangenen Monaten sind sowohl die Sicherheitskräfte als auch Einrichtungen westlicher Staaten immer wieder zur Zielscheibe von Angriffen geworden.

    JEMEN: Im Zuge des Arabischen Frühlings erhob sich das jemenitische Volk gegen den langjährigen Präsidenten Ali Abdallah Saleh. Es gelang, Saleh in einem Verhandlungsprozess zum Abtreten zu bewegen und eine zweijährige Phase des Übergangs zu vereinbaren. Derzeit wird eine neue Verfassung erarbeitet, für Februar 2014 sind Wahlen angekündigt. (afp)

    Das Monopol bei der Verteilung der Mittel haben adelige Dynastien oder mafiose Kartelle. Die große Masse der Bevölkerung geht leer aus, zwei Drittel der 400 Millionen Araber leben in prekären Verhältnissen. Ihren fetten politischen Eliten dagegen fehlt jedes Bewusstsein für das öffentliche Wohl.

    Diese seit Generationen praktizierte Methodik des Machterhalts jedoch überfordert längst die Finanzkraft der arabischen Staaten, die alle mit einer maroden Wirtschaft und sinkenden Ölpreisen, mit hoher Arbeitslosigkeit und schnell wachsenden Bevölkerungszahlen zu kämpfen haben. Die meisten Regimes verbrauchen zwei Drittel und mehr ihrer Staatsetats für Subventionen, den öffentlichen Dienst, Sicherheitsapparate und Schuldzinsen.

    Zwischenbilanz zieht Europas Nahost- und Nordafrikapolitik in Zweifel

    Diese trübe Zehn-Jahres-Bilanz des Arabischen Frühlings zieht auch Europas bisherige Nahost- und Nordafrikapolitik grundsätzlich in Zweifel. Wie umgehen mit einer Nachbarregion, die Unsummen an Entwicklungsgeldern einstreicht, deren Regime aber nie einen ernsthaften Willen zeigen, ihre Völker am politischen Geschehen zu beteiligen und deren Menschenrechte zu achten?

    Offenbar fördern die Milliardengaben der Industrienationen nicht soziale Gerechtigkeit und verantwortliches Regierungshandeln, sondern zementieren die herkömmlichen autoritären Gesellschaftsverträge. Die gleiche Wirkung haben die exzessiven Rüstungsgeschäfte Europas und der USA in der Region, in der fünf Prozent der Weltbevölkerung lebt, die aber 35 Prozent aller Waffen kauft.

    In Tunesien zum Beispiel sorgte der unkoordinierte Geldsegen der Europäischen Union nach der Revolution 2011 dafür, dass die politische Klasse bis heute kaum Motivation verspürt, dringend nötige Reformen anzupacken. Libanons Staatsmafia rührt selbst nach der Beiruter Hafenexplosion keinen Finger – und so graben sich zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling Machtmissbrauch und Misere im Nahen Osten immer noch tiefer ein. Es wird Zeit, dass Europa und die USA daraus die Konsequenzen ziehen und beides beenden: ihre Waffengeschäfte und ihre naiv-gutgläubigen Staatshilfen.

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