Die Menschen wollen ihr normales Leben zurück. Nach einem Jahr mit der Pandemie sind alle ermüdet. Gerade deshalb sollten wir unsere verbliebene Energie nicht mit rechthaberischen Debatten verschwenden. Die Frontlinien sind doch ohnehin klar: Die einen wollen die Corona-Einschränkungen lockern oder zumindest einen klaren Plan aufstellen, wann und wie sie abgebaut werden können. Die anderen halten solche Lockerungen angesichts der Gefahr durch die hoch ansteckenden Mutationen, die das Land über kurz oder lang mit Wucht erreichen werden, für ein unkalkulierbares Risiko. Es geht jetzt nicht darum, wer am Ende Recht behält. Was wir brauchen, ist eine Perspektive, anstatt weiterhin immer nur auf Sicht zu fahren und passiv abzuwarten, was passiert.
Volle Intensivstationen sind auch für alle anderen lebensgefährlich
Nein, die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus sind keine willkürliche Gängelei der Bürger. Sie sollen Leben retten. Selbst, wenn eine Infektion für die meisten glimpflich ausgehen mag, ist eben niemand vor einem schweren Verlauf gefeit. Und überfüllte Intensivstationen können dann auch für all jene lebensgefährlich werden, die wegen einer ganz anderen Erkrankung auf schnellstmögliche Behandlung angewiesen sind. Trotzdem sollten Politiker, die den Lockdown aus guten Gründen fortsetzen wollen, nicht jede Lockerung automatisch als „überstürzt“ abtun. Es gibt noch etwas dazwischen. Das Gegenteil von Überstürzen ist Nachdenken.
Warum soll es mit gut durchdachten Konzepten nicht möglich sein, zumindest einen kleinen Teil des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens wieder zu ermöglichen? Warum soll es schon verantwortungslos sein, den Bürgern eine Perspektive zu geben, ab welchen Ansteckungsraten der Friseur oder die Kita öffnen darf oder Amateursport in der Gruppe wieder möglich ist? Natürlich droht jeder Plan in einer derart unübersichtlichen Lage schnell wieder über den Haufen geworfen zu werden. Aber das darf doch nicht bedeuten, dass man erst gar keine Pläne macht.
Lockerungen? Die Frage ist nicht verwerflich, ob die Corona-Maßnahmen verhältnismäßig sind
Die meisten Menschen haben trotz aller Erschöpfung noch immer Verständnis dafür, dass Corona eine ernste Bedrohung ist, die allen notgedrungen viel abverlangt. Doch es ist auch normal, dass die Nerven blank liegen. Dass Ängste um den Job, um die Kinder, um die gesellschaftliche Stimmung, um die eigene Seele irgendwann zur Frage führen, ob all diese Maßnahmen noch verhältnismäßig sind.
Es ist nicht verwerflich, diese Frage zu stellen. Wer sie mit dem (berechtigten) Hinweis wegwischt, dass Corona eine Frage von Leben und Tod sein kann, unterschätzt einen entscheidenden Faktor, den wir brauchen, um die Pandemie gut zu überstehen. Und das ist die Bereitschaft einer großen Mehrheit der Bevölkerung, mitzuhelfen. Deshalb ist das Signal so wichtig, dass wir alles tun müssen, um das Virus zu bremsen. Dass wir diesem Ziel aber nicht auf Dauer sämtliche Bedenken unterordnen können.
Wir brauchen endlich Konzepte - auch für die nächste Pandemie
Am Mittwoch diskutieren Kanzlerin und Ministerpräsidenten wieder über die Corona-Regeln. Doch es reicht nicht mehr, immer nur darüber zu reden, ob und für wie lange der Lockdown verlängert werden soll und dann zu schauen, wie sich die Infektionszahlen entwickeln. Die Verantwortlichen müssen die Zeit endlich dafür nutzen, Konzepte zu entwickeln, wie und an welchen Stellen trotz allem zumindest ein bisschen Normalität möglich ist. Mit einer besseren Corona-App, mit den Erfahrungen aus dem Frühjahr, mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit Teststrategien und Impfungen. Wir werden diese Konzepte brauchen. Jetzt, aber auch für eine mögliche weitere Welle – oder eine ganz andere Pandemie.
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