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Kommentar: Warum der Terror so oft in Frankreich zuschlägt

Kommentar

Warum der Terror so oft in Frankreich zuschlägt

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    Wieder schlug der Terror in Frankreich zu. In Nizza wurden mehr als 80 Menschen getötet.
    Wieder schlug der Terror in Frankreich zu. In Nizza wurden mehr als 80 Menschen getötet. Foto: Oliver Anrigo, dpa

    Es ist erst ein paar Tage her, als Millionen Franzosen euphorisch die Trikolore schwenkten: Ihre Nationalelf hatte es vor heimischem Publikum ins Finale der Fußball-EM geschafft. Reichte es zwar nicht zum Siegespokal, so machte sich auch mit dem Vize-Titel in dem von Terrorangst, Streiks und Verdrossenheit geplagten Land kollektive Fröhlichkeit breit. Sie gesellte sich zur Erleichterung darüber, dass das Turnier nicht von einem großen Terroranschlag überschattet wurde. Doch er folgte wenig später.

    Die Fahnen, die gerade noch in der Sommerluft flatterten, hängen nun auf halbmast. Frankreich ist erneut getroffen. Tief getroffen von der extremen Gewalt des Anschlags am Donnerstagabend, von der hohen Zahl der Opfer und davon, erneut zur Zielscheibe geworden zu sein. Die Angst, dass die Attacken des vergangenen Jahres nur der Beginn einer fürchterlichen, noch lange andauernden Serie waren, scheint längst Gewissheit. Im Januar 2015 hatten es Islamisten auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt abgesehen, im November auf ein Fußballstadion bei Paris, mehrere Bars, Restaurants und eine Konzerthalle im Ausgehviertel der Metropole.

    Symbolträchtiges Ziel für Terror in Nizza

    Das ist der berühmte Urlaubsort Nizza

    Nizza ist ein weltberühmter Urlaubsort in Südfrankreich an der Côte d'Azur. Jedes Jahr reisen vier Millionen Menschen in die Stadt.

    Schon im 19. Jahrhundert zog es internationale Gäste nach Nizza. Die Strandpromenade Promenade des Anglais (Promenade der Engländer) wurde nach einem englischen Geistlichen und dessen Schwager benannt, die 1824 einen ersten einfachen Pfad anlegten, der im Laufe der Jahrzehnte immer breiter und prachtvoller wurde.

    Zur Zeit der Belle Epoque erreicht Nizza ihre Hoch-Zeit - Aristokraten und Privatiers aus aller Welt zieht es in die Stadt, angelockt vom milden Winter.

    Ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts lockt Nizza auch immer mehr Sommergäste an.

    Zwischen den Weltkriegen werden hunderte Häuser gebaut. Zahlreiche Künstler, Musiker und Schriftsteller zieht es in die Stadt. Luxushotels, Casinos und Paläste sprießen aus dem Boden.

    Heute lockt Nizza jedes Jahr rund vier Millionen Besucher an. Trotzdem liegt die Arbeitslosigkeit deutlich über dem Landesdurchschnitt.

    Mit ihren 342.000 Einwohnern ist Nizza nach Paris, Marseille, Lyon und Toulouse die fünftgrößte Stadt Frankreichs. Der Großraum Nizza-Côte d'Azur mit seinen 45 Gemeinden zählt mehr als 500.000 Einwohner.

    Mit der Strandpromenade von Nizza, einem der glamourösesten Orte Frankreichs, suchte sich der Attentäter am Donnerstag erneut ein symbolträchtiges Ziel aus. Kinder, Frauen, Männer – wer seine Opfer waren, muss ihm in seiner totalen Verblendung gleichgültig gewesen sein. Aber möglichst viele wollte er treffen. Auch den 14. Juli als Datum wählte er nicht zufällig: Frankreichs Nationalfeiertag, an dem das Land mit pompösen Paraden sich selbst, seine Geschichte und prunkvolle Armee feiert.

    Es sind gerade die militärischen Einsätze im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat, die Terroristen oft als Rechtfertigung für ihre Taten hervorbringen. Noch fehlen Informationen, um einzuschätzen, ob es sich beim Attentäter von Nizza um einen Einzeltäter handelte und ob ihn eine radikalislamistische Ideologie antrieb. Ob er, der gebürtige Tunesier, ein weiterer jener wütenden jungen Männer war, die das Land zerstören wollen, in dem sie leben.

    Chronologie des Terrors in Frankreich

    7. Januar 2015: Beim Attentat auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» sterben in Paris zwölf Menschen. Zu dem Anschlag bekennt sich ein Ableger der Terrororganisation Al-Kaida. Ein dritter Täter erschießt eine Polizistin und nimmt in einem jüdischen Supermarkt Geiseln, von denen er vier erschießt, bevor er selbst von der Polizei getötet wird. Er hatte sich zuvor zur Terrormiliz IS bekannt.

    19. April: Nach der Ermordung einer Frau in Villejuif bei Paris wird ein Student festgenommen. Der 24-Jährige mit Kontakt nach Syrien soll mit einem Waffenarsenal aus Kalaschnikow-Sturmgewehren, Pistolen und Revolver Anschläge auf Kirchen geplant haben.

    26. Juni: Ein 35-jähriger Islamist wird überwältigt, als er in einem Industriegas-Werk in Saint-Quentin-Fallavier bei Lyon eine Explosion verursachen wollte. Er hatte zuvor seinen Arbeitgeber enthauptet und den Kopf mit zwei Islamistenflaggen auf den Fabrikzaun gesteckt.

    21. August: Ein 25-jähriger Islamist wird im Thalys-Schnellzug Brüssel-Paris bei einem Anschlagversuch mit einem Schnellfeuergewehr von Fahrgästen überwältigt. Zwei Zuginsassen werden verletzt.

    13. November: Bei einer koordinierten Anschlagsserie in Paris töten IS-Extremisten 130 Menschen. In der Konzerthalle «Bataclan» richten sie ein Massaker an, Bars und Restaurants werden beschossen, am Stade de France sprengen sich während des Fußball-Länderspiels Frankreich-Deutschland drei Selbstmordattentäter in die Luft.

    18. November: Bei einem Anti-Terror-Einsatz in Saint-Denis bei Paris nimmt die Polizei sieben mutmaßliche Komplizen der Attentäter fest. Drei weitere Verdächtige kommen ums Leben, wie sich später herausstellt - einer ist der gesuchte Abaaoud.

    7. Januar 2016: Am Jahrestag der Anschläge auf «Charlie Hebdo» schießen Polizisten vor einem Pariser Kommissariat einen Mann nieder. Er war mit einem Messer bewaffnet und trug die Attrappe einer Sprengstoffweste.

    24. März 2016: Ermittler nehmen einen 34-jährigen Franzosen fest und finden in einer von ihm angemieteten Wohnung im Pariser Vorort Argenteuil ein großes Waffenarsenal, unter anderem mit fünf Kalaschnikow-Sturmgewehren, einer Maschinenpistole und Sprengstoff. Nach Ansicht der Ermittler gehörte der Festgenommene zu einem Terrornetzwerk, das kurz vor einem schweren Anschlag stand.

    14. Juni 2016: Ein Mann ersticht in Magnanville im westlichen Umland von Paris einen Polizisten und verschanzt sich in dessen Haus, wo später auch die Lebensgefährtin des Opfers tot aufgefunden wird. Die Polizei stürmt das Gebäude und erschießt den Täter, der sich zuvor zum IS bekannt hatte. Vor dem Hintergrund der laufenden Fußball-EM hatten zahlreiche Behörden immer wieder vor der hohen Terrorgefahr in Frankreich gewarnt.

    14. Juli 2016: Bei einem Anschlag am französischen Nationalfeiertag sind in der Hafenstadt Nizza mindestens 80 Menschen getötet worden. Zahlreiche weitere wurden verletzt, als ein Lastwagen durch eine feiernde Menschenmenge raste. (dpa)

    Vorschnelle Erklärungen verbieten sich daher. Doch eines ist sicher: Wenn Frankreich besonders exponiert ist, liegt das auch am Umgang mit seiner Kolonialgeschichte. Viele Menschen mit Wurzeln in Nord- und Westafrika sind nicht in der Gesellschaft angekommen, gelten höchstens als Franzosen zweiter Klasse, obwohl sie oft hier geboren wurden. Ausgegrenzt in den verwahrlosten Vorstädten entwickeln viele von ihnen einen explosiven Hass gegen Frankreich, wo der Rechtsnationalismus stetig ansteigt. Ohne Perspektive und mit gebrochener Identität scheinen sie besonders anfällig für extremistische Botschaften.

    Seit Monaten Ausnahmezustand in Frankreich

    Nichts rechtfertigt die begangenen Bluttaten. Doch zu verstehen, warum es immer wieder Frankreich trifft, und um weitere Tragödien zu verhindern, gehört der schonungslose Blick auf diese Hintergründe dazu. Nur die Sicherheitsmaßnahmen immer noch zu verstärken, weitere Soldaten und Polizisten zu mobilisieren und die geheimdienstliche Überwachung auszubauen, wird nicht reichen, um künftige Gräueltaten zu verhindern.

    Seit Monaten herrscht der Ausnahmezustand, die Sicherheitskräfte erreichen längst ihr Limit. Präsident und Premierminister treten erneut standfest und entschlossen auf, um den verunsicherten Menschen zu vermitteln, dass dieser Krieg, wie sie ihn nennen, gewonnen wird. Doch was Frankreich braucht, ist keine martialische Rhetorik, sondern Geschlossenheit.

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