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Kommentar: Ohne Zuwanderer wäre Deutschland um einiges ärmer

Kommentar

Ohne Zuwanderer wäre Deutschland um einiges ärmer

Margit Hufnagel
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    Im Landkreis werden weiter Fachkräfte gesucht. 
    Im Landkreis werden weiter Fachkräfte gesucht.  Foto: Sven Hoppe

    Es entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, was der auch sonst selten um eine Volte verlegene Premier Boris Johnson da gerade veranstaltet. Weil viele Regale in britischen Supermärkten leer bleiben und die Tankstellen auf dem Trockenen sitzen, will er Kurzzeit-Visa an ausländische Billig-Arbeiter vergeben: Bis Weihnachten sollen sie den Briten den Alltag vereinfachen, danach können sie zurück in ihre jeweiligen Heimatländer.

    Der Brexit führt auf erstaunlich drastische Weise vor Augen, wie sehr die Wirtschaft vom Prinzip der offenen Grenzen innerhalb Europas profitiert. Seit Montag muss die Regierung Militär einsetzen, um die Krise abzufedern. Leider ist die Misere in Großbritannien eher Symptom eines größeren politischen Versagens als nur ein bizarrer Einzelfall. Obwohl es eines der wichtigsten Themen ist, Gesellschaft und Wirtschaft maßgeblich beschäftigt, machen viele europäische Regierungen einen weiten Bogen um das Thema Migration.

    Noch immer kein echtes Zuwanderungsgesetz in Deutschland

    Aus Furcht, Wähler zu verschrecken, dämmert auch Deutschland seit vielen Jahren in einem fatalen migrationspolitischen Halbschlaf: Solange die Probleme nicht ganz über den Kopf wachsen, werden sie ignoriert. 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, ist es noch immer nicht gelungen, ein echtes Zuwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen, das beiden helfen würden: der Industrienation Deutschland genauso wie den Menschen, die ihre Zukunft zwischen Nordsee und Alpen sehen.

    Noch immer hängt das Flüchtlingsjahr 2015 dem Land wie ein Mühlstein um den Hals und bremst viele Fortschritte schon im Ansatz aus: Zu tief sitzt die Furcht, dass jede Neuregelung höhere Zuwanderungszahlen nach sich zieht. Dabei hat ein Zuwanderungsgesetz erst mal nichts mit dem Recht auf Asyl zu tun. Das ist aus gutem Grund juristisch verankert, mit einem Zuwanderungsgesetz aber schafft sich die Politik ein eigenes Steuer-Element für Arbeitsmigration. Wie wichtig das wäre, zeigt eben jenes Anwerbeabkommen. Viele Fehler, die bis heute nachwirken, hätten vermieden werden können, wenn man sich nicht der Illusion hingegeben hätte, dass man Arbeiter beliebig ein- und dann wieder ausladen kann. Denn erst dadurch war es möglich, dass sich Parallelgesellschaften gebildet haben, dass Integration bisweilen bis heute schleppend verläuft. Ein echtes Miteinander war nie das Ziel.

    Viele Fehler der 60er Jahre wirken bis heute nach

    Dabei kann Zuwanderung ein großer Gewinn sein – und das zeigen nicht nur Erfolgsgeschichten wie die der Biontech-Chefs Özlem Türeci und Ugur Sahin, oder Politiker wie Cem Özdemir, dessen Vater 1961 unter den ersten „Gastarbeitern“ war. Im Alltag sind es die kleinen Begegnungen, diejenigen, die im Stillen arbeiten in den Pflegeheimen, in den Schlachthöfen, auf den Baustellen, die wir stärker schätzen sollten. Denn eines ist klar und wird durch das Beispiel Großbritannien noch einmal deutlicher: die europäische Wirtschaft kommt ohne Zuwachs von außen auf Dauer nicht aus. Jährlich müssten 480.000 Menschen einwandern, wenn die bis 2035 erwartete Abnahme der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ausgeglichen werden soll, rechnet das Statistische Bundesamt aus.

    Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass Zuwanderung anstrengend ist, dass sie nur gelingen kann, wenn Probleme offen angesprochen werden. Wer nicht einmal über rudimentäre Sprachkenntnisse verfügt, wird nie wirklich ankommen können. Wer die Werte und roten Linien nicht akzeptiert, muss sein Glück eben woanders suchen. Es wird die Aufgabe der künftigen Regierung sein, hier mutiger zu werden und sich nicht mit einem Minimalkompromiss zufrieden zu geben, sondern aktiv zu gestalten.

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