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Kommentar: Neustart für die Türkei? Erdogan sitzt noch zu fest im Sattel

Kommentar

Neustart für die Türkei? Erdogan sitzt noch zu fest im Sattel

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    Plakate des türkischen Präsidenten Erdogan (L) und des Bürgermeisterkandidaten der CHP für Istanbul, Imamoglu.
    Plakate des türkischen Präsidenten Erdogan (L) und des Bürgermeisterkandidaten der CHP für Istanbul, Imamoglu. Foto: Emrah Gurel/AP (dpa)

    Drei Jahre nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 kämpft sich die türkische Demokratie unter den Trümmern der damaligen Katastrophe zurück ans Tageslicht. Der Weg ist noch weit. Doch zum ersten Mal seit dem Umsturzversuch ist erkennbar, dass das Land nicht dauerhaft in einem autokratischen System verharren wird.

    Der Schock des Aufstandes gegen die demokratisch gewählte Regierung Erdogan sitzt immer noch tief. Rund 250 Menschen starben, die Aufständischen beschossen das Parlament in Ankara und planten die Ermordung des Präsidenten. Auch Erdogan-Kritiker waren entsetzt über die Gewalt. Welche Rolle Erdogans ehemaliger politischer Partner, der islamische Prediger Fethullah Gülen, bei dem Putschversuch spielte, ist bis heute ungeklärt. Dass Gülens Anhänger in der Putschnacht mit an den Schalthebeln saßen, ist zwar unumstritten. Viele Fragen bleiben jedoch unbeantwortet, weil Erdogan eine schonungslose Untersuchung des Putschversuchs und seiner Hintergründe verhindert hat – denn diese würde für seine Partei AKP wegen ihrer vielen Verbindungen zu Gülens Bewegung sehr unangenehm.

    Erdogans Gülen-Hexenjagd vertrieb tausende Akademiker

    Statt die Ereignisse ehrlich aufzuarbeiten, benutzte Erdogan den Putsch, um gegen Gülens tatsächliche und angebliche Gefolgsleute sowie gegen andere Gegner vorzugehen. Zehntausende Verdächtige wurden verhaftet, mehr als hunderttausend aus dem Staatsdienst entlassen. Die Hexenjagd trieb tausende Akademiker ins Ausland.

    Die Regierung argumentiert, der Staat müsse rigoros gegen mutmaßliche Unterstützer der Putschisten vorgehen, um einen neuen Umsturzversuch zu verhindern. Doch die Wahrheit sieht anders aus. Dieser Regierung geht es nicht um die Sicherung der Demokratie, sondern um den Ausbau ihrer Macht. Erdogan ließ Zeitungen und Fernsehsender verbieten und Journalisten einsperren. Große Teile der Justiz wurden zu willfährigen Instrumenten der Regierung. Weniger als ein Jahr nach dem versuchten Staatsstreich setzte Erdogan per Volksabstimmung die Einführung eines Präsidialsystems mit weitreichenden Vollmachten für ihn selbst durch. Auch seit Aufhebung des Ausnahmezustandes im vergangenen Jahr hat der Druck auf Andersdenkende nicht nachgelassen. Die Beziehungen zur EU stecken in der Dauerkrise.

    Aufarbeitung des Putschversuchs nur mit unabhängiger Justiz möglich

    Nun aber tut sich etwas in der Türkei. Die jüngsten Wahlsiege der Opposition in den größten Städten des Landes haben ein Gegengewicht zur bisherigen Allmacht der AKP geschaffen. Die Verfolgung von vermeintlichen Erdogan-Gegnern trifft in der Öffentlichkeit und sogar in Erdogans eigener Partei auf wachsenden Widerstand. Widersprüche der AKP im Umgang mit Gülen werden öffentlich angeprangert: Politiker und Journalisten mit guten Verbindungen zu Erdogan erfreuen sich trotz ihrer früheren Kontakte mit Gülen ihrer Posten, während weniger gut vernetzte Türken im Gefängnis sitzen, nur weil sie ein Konto bei einer Gülen-Bank besaßen. Selbst in der Justiz regt sich Widerstandsgeist. Der Berufungsgerichtshof hob vor einigen Tagen lebenslange Haftstrafen gegen zwei Journalisten auf, denen mit absurden Beschuldigungen eine Verbindung zu Gülen in die Schuhe geschoben worden war.

    Ohne grundlegende Reformen werden solche Urteile jedoch die Ausnahme bleiben. Der schlimme Zustand der Justiz gehört zum schweren Erbe des Putschversuchs. Erst wenn die Gerichte einigermaßen unabhängig sind, werden eine ehrliche Aufarbeitung der Ereignisse vom 15. Juli 2016 und eine Wiederannäherung an europäische Demokratie-Standards möglich. Noch ist die Türkei weit von einem solchen Neustart entfernt.

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