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Kommentar: Nach Steudtner muss Erdogan alle "Geiseln" freilassen

Kommentar

Nach Steudtner muss Erdogan alle "Geiseln" freilassen

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    Peter Steudtner ist frei - in der Türkei sitzen aber weitere Deutsche in Haft.
    Peter Steudtner ist frei - in der Türkei sitzen aber weitere Deutsche in Haft. Foto: Emrah Gurel, dpa

    Wenn es nicht um das Schicksal von Menschen ginge, könnte man von einer Groteske sprechen. Da tut der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die ganze Zeit so, als habe die Justiz seines Landes „gefährliche Terroristen“ eingesperrt, um dann, nach einem Besuch von Ex-Kanzler Gerhard Schröder und einem freundschaftlichen Gespräch unter Männern, den deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner und weitere sieben Angeklagte freizulassen. Damit es nicht allzu willkürlich aussieht, soll das Gerichtsverfahren weitergeführt werden – eine Schmierenkomödie.

    Erdogan hat durch sein Verhalten bestätigt, dass es ihm nur darum ging, von der Bundesregierung gebauchpinselt zu werden – was Schröder, der im Auftrag von Außenminister Sigmar Gabriel und Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Istanbul reiste, offenkundig tat. Damit hat Erdogan bestätigt, dass Steudtner und die aktuell zehn weiteren Deutschen, die aus politischen Gründen in türkischen Gefängnissen festgehalten werden, Geiseln in der Hand eines Despoten waren und sind.

    Dennoch hat Schröder für seine Vermittlung Dank und Anerkennung verdient. Der ehemalige Bundeskanzler, der in seiner Amtszeit zum Beispiel dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush die Stirn geboten hat, ist kein tumber Tor, dem sich außenpolitische Zusammenhänge nicht erschließen würden.

    Der einstige SPD-Politiker ist auch kein Freund Erdogans, dessen Partei AKP bis 2014 einen Beobachterstatus bei der konservativen Europäischen Volkspartei innehatte, der auch CDU und CSU angehören. Vielmehr ist Schröder aus humanitären Gründen über seinen Schatten gesprungen – und hatte damit Erfolg.

    Nicht nur ausländische "Geiseln" leiden unter Willkür in der Türkei

    Wahrscheinlich hätte es Erdogan am liebsten gehabt, wenn Kanzlerin Merkel persönlich als Bittstellerin bei ihm vorgesprochen hätte. Aber das kam nicht infrage – ein solch tiefer Kniefall hätte das Ansehen Deutschlands in der Welt beschädigt. Einen Minister wiederum wollte der Präsident nicht als Gesprächspartner akzeptieren. Ex-Kanzler Schröder indes war ein Vermittler auf Augenhöhe.

    Deutsche Gefangene in der Türkei

    In der Türkei sind mindestens sechs Bundesbürger aus politischen Gründen inhaftiert, die Dunkelziffer dürfte noch höher sein.

    Die Inhaftierungen haben eine schwere Krise zwischen Berlin und Ankara ausgelöst.

    Die Bundesregierung fordert die Freilassung der Deutschen.

    Das sind die Gefangenen:

    Ilhami A. (46) aus Hamburg: Der Taxifahrer aus Hamburg wurde Mitte August in der osttürkischen Provinz Elazig verhaftet. Der Vorwurf lautet Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei und der EU als Terrororganisation gilt.

    Dennis E. (55) aus Hamburg: Auch im Fall Dennis E. geht es um Facebook-Posts und den Vorwurf der Terrorpropaganda für die PKK. Die türkische Polizei nahm den 55-Jährigen Ende Juli bei einem Besuch im südtürkischen Iskenderun fest, wo er auch inhaftiert ist. 

    Hozan Cane (Mitte 40) aus Köln: Polizisten hielten vor den Wahlen Ende Juni einen Bus der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP an und nahmen die kurdischstämmige Sängerin mit dem Künstlernamen Hozan Cane mit. Cane hatte im westtürkischen Edirne eine Wahlkampfveranstaltung der HDP unterstützt. Ihr wird die Mitgliedschaft in der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen. 

    Adil Demirci (Anfang 30) aus Köln: Der Sozialarbeiter war Mitte April in Istanbul festgenommen worden. Er schrieb aus Deutschland frei für die linke Nachrichtenagentur Etha, für die auch Mesale Tolu arbeitete. Wie Tolu wird Demirci Mitgliedschaft in der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei vorgeworfen. Die MLKP gilt in der Türkei als Terrororganisation. 

    Patrick K. (29) aus Gießen: Patrick K. war Mitte März nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu im türkisch-syrischen Grenzgebiet festgenommen worden. Anadolu schreibt, er habe sich in Syrien der Kurdenmiliz YPG anschließen wollen. Nach Angaben seiner Familie war K. zum Wandern in der Türkei. 

    Enver Altayli (73): Schon ein Jahr lang sitzt Altayli ohne Anklage in Einzelhaft - seine Familie macht sich Sorgen um seine Gesundheit. Altayli ist Jurist und arbeitete in den 60er Jahren für den türkischen Geheimdienst MIT. Im August vergangenen Jahres war er in Antalya festgenommen worden, wo die Familie eine Ferienanlage betreibt. Ihm wird Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist.

    Diese Deutschen wurden mittlerweile freigelassen und konnten in ihre Heimat zurückkehren:

    Peter Steudtner (45): Der Menschenrechtler ist Ende Oktober nach mehr als drei Monaten in Untersuchungshaft freigekommen.

    Mesale Tolu (34) kehrte am 26. August 2018 zurück in ihre Heimat Neu-Ulm. Die Journalistin war im April 2017 von schwer bewaffneten Polizisten festgenommen. Nach 17 Monaten in Gefangenschaft konnte sie nach Deutschland zurückkehren.

    Deniz Yücel: Der 44-Jährige saß vom 14. Februar 2017 bis zum 16. Februar 2018 wegen angeblicher Terrorpropaganda in türkischer Untersuchungshaft. Nach rund einem Jahr konnte der Korrespondent nach Deutschland zurückkehren.

    Allerdings hat Erdogan jetzt sichtbar gemacht, was jeder wusste, der Präsident aber zu verbergen trachtete: dass die türkische Justiz nicht nach Recht und Gesetz entscheidet, sondern politisch gelenkt ist. Sonst wären nicht auf einen Wink des Staatschefs hin Steudtner und sieben Mitangeklagte freigekommen.

    Unter Willkür leiden im Übrigen nicht nur die verhafteten ausländischen „Geiseln“, sondern auch der Großteil der inländischen Opfer jener gigantischen Verhaftungswelle, die das Regime – offenbar gut vorbereitet – nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 gestartet hat. Auch die zigtausende von Staatsdienern, die aus der Justiz und dem Sicherheitsapparat sowie aus Schulen und Universitäten entfernt wurden, sind Leidtragende der Machtbesessenheit des Möchtegern-Sultans.

    Türkei muss nun auch Mesale Tolu und Deniz Yücel freilassen

    Schröders Vermittlung müsste ausreichen, damit nach Steudtner weitere Deutsche freikommen. Die Anklage gegen die Neu-Ulmer Journalistin Mesale Tolu und die Vorwürfe gegen den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel stehen jedenfalls ebenso auf tönernen Füßen, wie das bei Steudtner der Fall war. Eine Entspannung im deutsch-türkischen Verhältnis könnte bestenfalls dann eintreten, wenn alle Betroffenen endlich auf freiem Fuß sind. Und wenn Erdogan glaubhaft versichert, dass er keine neuen Geiseln nimmt.

    Solange dies nicht der Fall ist, muss die Bundesregierung weiter Verschärfungen im Verhältnis zu Ankara androhen. Erdogan ist kein Freund Deutschlands, sondern ein unberechenbarer Gegner.

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    Mehr zur Türkei lesen Sie in unserem News-Blog.

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