Um den Ausnahmezustand zu verlängern, benötigte der Bundestag nicht einmal eine Stunde. Obwohl die Inzidenzen niedrig sind, die Intensivstationen sich leeren und die Corona-Regeln überall gelockert werden, kann die Bundesregierung den Deutschen weiter die Daumenschrauben anziehen. Die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, eine rechtliche Voraussetzung für das Einschränken von Grundrechten, gilt noch bis mindestens 30. September – und kaum jemand stört sich daran.
Dabei rührt diese Politik der vorauseilenden Selbstermächtigung an den Fundamenten der freien Gesellschaft. Der Staat darf die Freiheiten seiner Bürger nur einschränken, wo dies unabdingbar nötig und, vor allem, verhältnismäßig ist. Bei Inzidenzen von weniger als 20 und einer kontinuierlich steigenden Impfquote aber braucht es schon viel kreative Fantasie, daraus noch eine nationale Notlage zu konstruieren. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Selbstverständlichkeit solche Entscheidungen heute in Deutschland getroffen werden.
Folgt dem Corona-Lockdown der Klima-Lockdown?
Nach mehr als einem Jahr im Ausnahmezustand funktionieren die liberalen Selbsterhaltungsreflexe offenbar nur noch eingeschränkt. Das Land, so scheint es, hat sich an eine Form von staatlicher Autorität gewöhnt, die im Kampf gegen Corona zeitweise alternativlos war, die sich nun aber zu verselbstständigen droht. Wohin das führen kann, hat der SPD-Politiker Karl Lauterbach schon einmal skizziert: Analog zu den Einschränkungen in der Pandemie, argumentiert der, werde der Staat die persönlichen Freiheiten seiner Bürger auch zur Bewältigung des Klimawandels einschränken müssen. Das hieße: Dem Corona-Lockdown folgt irgendwann der Klima-Lockdown.
Wo die Verantwortung des Einzelnen endet und die des Staates beginnt, definiert jedes Land für sich. Während die Angelsachsen oder die Schweizer die Politik hier in einer deutlich defensiveren Rolle sehen, hat sich in Deutschland mit den Jahren eine Erwartungshaltung an den Staat entwickelt, die ökonomisch zu Lähmungserscheinungen führt und, noch schlimmer, die Tektonik unserer Demokratie untergräbt. Ein Staat, der von der Dachneigung eines Wohnhauses bis zu den Abstandsregeln auf einem Supermarktparkplatz alles regelt und für alles sorgt, wird fast zwangsläufig zu einem bevormundenden Staat. Er erstickt Eigeninitiative und Eigenverantwortung und nimmt sich eine Macht, die ihm so nicht zusteht. Es ist schließlich nicht der Staat, der seinen Bürgern mit großer aristokratischer Geste Freiheiten gewährt. Im Gegenteil. „Alle Staatsgewalt“, heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes, „geht vom Volke aus.“ Die Freiheit des Einzelnen ist ein Wert für sich – und unverhandelbar.
Zu Beginn der Pandemie musste der Staat schnell und hart reagieren
Dazu gehört umgekehrt aber auch, für sich selbst einzustehen und nicht in jeder Lebenslage sofort staatlichen Beistand einzufordern. Juristen sprechen hier vom „allgemeinen Lebensrisiko“, das jeder für sich zu tragen hat - etwa das Risiko, zu erkranken, oder Opfer eines Unfalls zu werden. Auf Corona übertragen bedeutet das: Zu Beginn der Pandemie, als das Virus noch kaum erforscht war und die Infektionszahlen und die Zahl der Toten rapide stiegen, war der Staat in der Pflicht. Um seine Bürger zu schützen, musste er schnell drastische Maßnahmen ergreifen. Je mehr Menschen jedoch geimpft sind, umso mehr ist jeder Einzelne wieder für sein Verhalten verantwortlich. Die Maskenpflicht und andere Corona-Regeln zu verlängern, bis der letzte Skeptiker von der Notwendigkeit einer Impfung überzeugt, Herdenimmunität erreicht oder die Gefahr einer vierten Welle gebannt ist, hieße ein ganzes Land in Kollektivhaft zu nehmen. Jeder kann sich, wenn er will, im Bus, in der Bahn oder beim Betreten eines Geschäftes weiter eine Maske aufsetzen. Es von jedem zu verlangen, wenn die Infektionszahlen weiter sinken, führt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ad absurdum.
Stirbt die Freiheit zentimeterweise?
Die Freiheit sterbe immer zentimeterweise, hat schon der liberale Vordenker Karl-Herrmann Fach gewarnt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass hierzulande selbst drastische Einschränkungen der persönlichen Freiheiten vergleichsweise klaglos hingenommen werden – von den neuen Möglichkeiten der Telefonüberwachung durch die Bundespolizei und die Geheimdienste bis zu den Ausgangssperren auf dem Höhepunkt der Pandemie. „Populär ist: alles verbieten, streng sein, die Bürger behandeln wie unmündige Kinder,“ hat der CDU-Vorsitzende Armin Laschet schon früh kritisiert. Dahinter steckt, wenn auch unausgesprochen, die Sehnsucht nach der starken Hand, die führt. Entsprechend populär waren lange Zeit die Verfechter eines möglichst harten Kurses, allen voran Markus Söder mit seiner Sheriff-Attitüde.
Die neuen Bundesregierung steht nun vor einer gewaltigen Aufgabe. Sie muss nicht nur die ökonomischen, finanziellen und kulturellen Schäden beheben, sondern dem Land auch die Freiheit zurückgeben, die es ihm in der Krise genommen hat. So wichtig Abstandsregeln, Sperrstunden oder Testpflichten für eine gewisse Zeit gewesen sein mögen - ein Staat, der seinen Bürgern nicht zutraut, dass sie auch ganz gut auf sich selbst aufpassen können, ist irgendwann kein liberaler Staat mehr. Carl-Friedrich von Weizsäcker, der große Universalgelehrte, hat es einmal so formuliert: „Freiheit ist ein Gut, das durch Gebrauch wächst und durch Nichtgebrauch dahinschwindet.“