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Kommentar: Joachim Gauck hört auf – und Angela Merkel hat ein Problem mehr

Kommentar

Joachim Gauck hört auf – und Angela Merkel hat ein Problem mehr

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    Ob er für eine zweite Amtszeit antritt, ließ Gauck lange offen.
    Ob er für eine zweite Amtszeit antritt, ließ Gauck lange offen. Foto: Friso Gentsch/Archiv (dpa)

    Fünf Jahre sind genug. Jetzt soll Schluss sein. Joachim Gauck, der im März 2012 als gemeinsamer Kandidat von CDU, CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zum elften Bundespräsidenten gewählt wurde, hat sich nach langem Zögern offenbar entschieden. Für eine zweite Amtszeit, die bis 2022 dauern würde, steht er nach – bislang allerdings unbestätigten – Berichten nicht mehr zur Verfügung. Er wäre dann 82.

    Das ist Joachim Gauck

    Bundespräsident Joachim Gauck hat ein bewegtes Leben hinter sich. Seine wichtigsten Stationen.

    Gauck kommt 1940 in Rostock zur Welt. Sein Vater ist Kapitän, seine Mutter gelernte Bürofachfrau. Sein Vater wird von den Russen wegen angeblicher Sabotage in einem Lager in Sibirien verschleppt, als Gauck sechs Jahre alt ist. Er kommt erst viele Jahre später wieder frei.

    Nach dem Abitur studiert Joachim Gauck Theologie in Rostock und arbeitet dann ab 1967 als Pastor in Lüssow. Sein eigentlicher Berufswunsch Journalist zu werden, lässt sich in der DDR nicht erfüllen.

    Ab 1974 wird Joachim Gauck wegen seiner kritischen Predigten von der Stasi beobachtet.

    Als sich in der DDR Ende der achtziger Jahre Widerstandsgruppen formieren, wird Gauck Mitbegründer und Sprecher des „Neuen Forums“. Er leitet unter anderem Gottesdienste und führt Großdemonstrationen an.

    Das Ende des DDR-Regimes und die Wendezeit nennt Gauck die "prägende Zeit meines Lebens".

    1990 leitet er als Abgeordneter der frei gewählten DDR-Volkskammer den Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit.

    Am Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 übernimmt Joachim Gauck die nach ihm benannte Stasi-Unterlagen-Behörde. Bis zum Jahr 2000, als er die Leitung an Marianne Birthler abgiebt, avanciert Gauck zum bekanntesten Gesicht der DDR-Demokratiebewegung.

    Nach dem Mauerfall trennt sich der Theologe von seiner Frau und findet eine neue Lebenspartnerin aus dem Westen - eine Journalistin aus Nürnberg. Bis heute sind beide nicht miteinander verheiratet.

    2003 wird Joachim Gauck aus den Reihen der FDP erstmals als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Spiel gebracht.

    2005 wird Joachim Gauck, damals 65 Jahre alt, Ehrendoktor der Universität Augsburg.

    Der Vater von vier Kindern und mehrfache Großvater engagiert sich auch im Verein „Gegen Vergessen für Demokratie“. Als Vorsitzender kümmert er sich zusammen mit vielen Mitstreitern um die Aufarbeitung der Geschichte der Diktaturen in Deutschland.

    Im Sommer 2010 wird er von SPD und Grünen zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten nominiert. Dass er bei der durch Horst Köhlers Rücktritt nötig gewordenen Wahl knapp an Wulff scheitert, ändert nichts an seiner Beliebtheit.

    2011 sorgt Gauck für Schlagzeilen, als er Thilo Sarrazin für sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ Mut attestiert. „Er hat über ein Problem, das in der Gesellschaft besteht, offener gesprochen als die Politik“, sagte Gauck, wobei er sich den den Inhalten des Buches distanzierte.

    Nach dem Rücktritt von Christian Wulff wird Gauck von Union, FDP, Grünen und SPD zum gemeinsamen Kandidaten für die Wahl eines neuen Bundespräsidenten nominiert.

    Am 18. März 2012 wählt ihn die Bundesversammlung mit großer Mehrheit zum Bundespräsidenten, am 23. März wird er vereidigt.

    Mit seiner Entscheidung würde Gauck rechtzeitig vor der parlamentarischen Sommerpause alle Spekulationen über seine Zukunft beenden. Vor allem sind damit all jene Gerüchte ein für alle Mal vom Tisch, es könne einen unwürdigen Deal nach italienischem Vorbild geben: Gauck lässt sich im Amt bestätigen, um die Wahl aus dem bevorstehenden Bundestagswahlkampf herauszuhalten, tritt aber zur Hälfte seiner Amtszeit zurück.

    Für Angela Merkel kommt der freiwillige Verzicht Gaucks auf eine zweite Amtszeit zur Unzeit. Für die Kanzlerin wäre es die ideale Lösung gewesen, alles bliebe, wie es ist: Der populäre und allseits geachtete Präsident würde im großen Konsens im Februar im Amt bestätigt, ohne dass dies als mögliche Vorentscheidung für eine Regierungsbildung gedeutet werden kann. So aber wird die Entscheidung, wer im März ins Berliner Schloss Bellevue einzieht, in jedem Falle zu einer Machtfrage. Wer setzt sich durch? Und wie verlaufen die Fronten? Ab jetzt ziehen die Strategen die Fäden.

    Eines hat die CDU-Chefin schon vorab unmissverständlich klargestellt: Das nächste Staatsoberhaupt wird die Union stellen. Das war eine klare Absage sowohl an einen Kandidaten aus den Reihen der SPD, beispielsweise Außenminister Frank-Walter Steinmeier, als auch an einen unabhängigen und überparteilichen Bewerber, der auch für die Grünen akzeptabel wäre. Das eine wäre als Signal für eine Fortsetzung der Großen Koalition gedeutet worden, das andere als Weichenstellung für Schwarz-Grün.

    Nach Joachim Gauck: Wer wird neuer Bundespräsident?

    Doch Merkel hat ein Problem: In der Bundesversammlung haben CDU und CSU zwar die meisten Stimmen, nicht jedoch die absolute Mehrheit, die im ersten und zweiten Wahlgang nötig ist. Mit den Grünen würde es beispielsweise reichen. Das aber dürfte vor allem bei der CSU und dem konservativen Unionsflügel auf massiven Widerstand stoßen. Alleine steht ein Kandidat von CDU und CSU jedenfalls auf verlorenem Posten.

    Bundespräsident Joachim Gauck.
    Bundespräsident Joachim Gauck. Foto: Sebastian Kahnert/Archiv (dpa)

    Umgekehrt hätten SPD, Grüne und Linke mit den Vertretern der Piraten eine knappe Mehrheit. Das aber würde wiederum die SPD und die Grünen vor eine gewaltige Zerreißprobe stellen – nicht wenige halten die Zeit noch nicht reif für Rot-Rot-Grün. Für sie ist die Linke nicht regierungsfähig.

    Zitate von Joachim Gauck

    "Unsäglich albern" (16.10. 2011, zur Finanzmarkt-Debatte)

    "Das wird schnell verebben." (16.10.2011, zur internationalen Protestbewegung "Occupy")

    "Wir träumten vom Paradies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen." (24.06.2010, über die Ernüchterung vieler Ostdeutscher über das Leben im wiedervereinigten Deutschland)

    "Ich würde in der Tradition all derjenigen Bundespräsidenten stehen, die sich gehütet haben, die Politik der Bundesregierungen zu zensieren. Mancher wünscht sich ja einen Bundespräsidenten wie einen Kaiser, als letzte Instanz über allem - das darf er nicht sein." (25.6.2010, bei seinem ersten Anlauf zur Präsidentschaft im Fernsehsender n-tv über sein Amtsverständnis.)

    "Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten." (3.10.2010 bei einer Feierstunde im Berliner Abgeordnetenhaus zum Einheits-Jubiläum)

    "Denn als Bürger der DDR haben ich und viele andere Menschen im ganzen Osten Europas Ohnmacht erlebt und trotz Ohnmacht Ähnliches geschafft: Es gibt ein wahres Leben im falschen.". (10.10.2010 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den israelischen Schriftsteller David Grossmann)

    «Verantwortung ist dem Untertan meistens fremd. Was er am besten kann, ist Angst haben.» (1999 über Furcht vor der Freiheit bei Menschen in Ostdeutschland)

    "Wir sind nicht dazu da, vor dem Verbrechen zu kapitulieren und vor dem Unheil zu flüchten." (29.11.2010, vor der Entgegennahme des Geschwister-Scholl-Preises)

    „Er hat über ein Problem, das in der Gesellschaft besteht, offener gesprochen als die Politik.“ (2011 über Thilo Sarrazin und sein Buch über Migrationspolitik.

    «Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten.» (3.10.2010 bei einer Feierstunde zum Einheits-Jubiläum)

    "Wir dürfen uns von den Fanatikern und Mördern nicht unser Lebensprinzip diktieren lassen." (27.7.2011, bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele gegen die Einschränkung von Freiheitsrechten aus Sicherheitsaspekten als Reaktion auf Terror)

    "Geben Sie mir einfach noch ein wenig Zeit." (17.2.2012, auf die Frage eines Reporters, ob er bereit für eine Kandidatur als Bundespräsident sei)

    Angela Merkel steht somit vor der Quadratur des Kreises. Sie muss einen Bewerber präsentieren, der in den eigenen Reihen unumstritten ist, gleichzeitig aber auch so viel Ansehen genießt, dass er von den anderen Parteien akzeptiert wird. Bundestagspräsident Norbert Lammert und Finanzminister Wolfgang Schäuble, die nicht immer zur Freude der Kanzlerin mit großer Unabhängigkeit agieren, könnten diese Voraussetzungen erfüllen. Das Format für das höchste Amt im Staate haben beide ohnehin.

    Joachim Gauck weiß, welche Konsequenzen sein Verzicht hat. Er hält das Land stark genug für eine Entscheidung. Gauck hat seine Aufgabe erfüllt. Nach den Rücktritten von Horst Köhler und Christian Wulff gab er dem Amt seine Würde zurück und agierte als wahrer Bürgerpräsident. Er kämpfte gegen die Verzagtheit an und machte den Menschen Mut, ohne ihnen nach dem Mund zu reden. Daran wird jeder Nachfolger gemessen, egal wer es wird. Alleine hat ein Kandidat der Union keine Chancen.

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