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Kommentar: Hetzer und Antisemiten dürfen nicht die Oberhand gewinnen

Kommentar

Hetzer und Antisemiten dürfen nicht die Oberhand gewinnen

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    Juden haben Bayern seit Jahrhunderten geprägt.
    Juden haben Bayern seit Jahrhunderten geprägt. Foto: Fredrik von Erichsen, dpa

    Das Gedankenexperiment „Stadt ohne Juden“ spielte der österreichische Schriftsteller Hugo Bettauer schon 1922, zwanzig Jahre vor Hitlers „Endlösung“, durch: Was geschähe, wenn eines Tages alle Juden aus der Gemeinschaft ausgestoßen würden? Bettauers Satire zeigt eine fiktionale krisengeschüttelte Stadt, die nach der Vertreibung der angeblichen Sündenböcke noch rapider den Bach hinunter geht. Denn ohne Juden fehlt es in dieser Stadt an kreativer Reibung und Kultiviertheit. Sie versinkt in ein dumpfes Einerlei und gerät wirtschaftlich wie politisch in die Isolation.

    Könnte Deutschland ohne Juden gut leben? Auf keinen Fall! Sie gehören seit mehr als tausend Jahren zu uns und ihre Geschichte war nie nur eine des Leidens und der Verfolgung – die es leider auch immer wieder gab und den Juden entsetzliche Schmerzen und Schmach, Verlust und Vernichtung zugefügt hat. Sie waren aber auch angesehene Bürger, vertrauenswürdige Geschäftspartner und produktive Kulturträger. Sie hatten – und haben bis heute – ihren Platz in der deutschen Gesellschaft. Daran möchte das Festjahr 2021 erinnern,an dem sich der Freistaat Bayern besonders rege beteiligt.

    Jüdisches Leben in Deutschland: Die Shoa hat nicht alles ausgelöscht

    Natürlich wird sich dabei eine Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart zeigen. Zu tief war der Einschnitt, den die nationalsozialistische Todesmaschinerie von Auschwitz hinterlassen hat. Im Land der Mörder konnten und wollten verständlicherweise die wenigen, die der Shoa (zu deutsch: Vernichtung) entgangen waren, nicht mehr leben. Doch ausgelöscht war jüdisches Leben in Deutschland auch nach 1945 nicht. Allerdings hat es seine Gestalt gewandelt. Nach der Auflösung der Sowjetunion geschah dies nochmals in den 1990ern mit der Auswanderung von rund 200.000 russischen Juden und erneut mit dem Zuzug junger Israeli in zukunftsträchtige, hippe Städte wie Berlin oder München.

    Die wenigsten unter ihnen geben sich im Alltag auffällig in ihrer Religionszugehörigkeit zu erkennen. Schläfenlocken und Gebetsriemen sind äußerst selten. Selbst die Kippa tragen die Männer außerhalb der Gebetsstätten kaum. Denn in der Öffentlichkeit müssen sie stets mit feindlichen Übergriffen rechnen, denn die Pest des Antisemitismus ist gerade wieder am Erstarken.

    Die kreative Reibung macht jüdisches Leben so kostbar

    Die Lage der Juden in Deutschland ist mehr als ambivalent. Einerseits werden sie als Exoten bewundert, ihre Freunde möchten sie möglichst authentisch sehen, als würde in jedem Haushalt koscher gekocht und die Gemütlichkeit des legendären Schtetls gepflegt. Andererseits dienen sie als Projektionsfläche für abstruse Verschwörungserzählungen, die den mittelalterlichen Ritualmordlügen in Drastik nicht nachstehen. Ihnen müssen wir entschieden widersprechen. Allein die Statistik lässt derlei Hetze ins Leere laufen: Die Kultusgemeinden haben insgesamt aktuell knapp 95.000 Mitglieder – unter 82 Millionen Einwohnern.

    Trotzdem wirkt die älteste Minderheit wie ein Sauerteig in unserer Gesellschaft. Sie erinnerte immer schon daran, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Auch wenn sich die christliche Mehrheit als alleiniger Erbe der göttlichen Verheißung wähnte, war die Erwählung Israels nicht aus der Bibel zu tilgen. Jüdische Existenz bedeutete eine heilsame Provokation – fremd und vertraut zugleich. Die Juden standen unter der besonderen Obhut der Kaiser. In Schwaben und Franken kam ihnen später eine zerklüftete politische Landschaft zugute und manches Dorf hatte fast genauso viele jüdische Einwohner. Erst der Einheitsstaat setzte dem ein Ende, bürgerliche Emanzipation wurde mit Assimilation erkauft. Doch genau die kreative Reibung macht jüdisches Leben bei uns so kostbar.

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