Alles ist möglich, nichts wird mehr ausgeschlossen. Die neue Regierung ist noch keine 100 Tage im Amt, da steht sie fast schon vor dem Aus. So sehr haben sich CDU und CSU im Streit um den Masterplan von Horst Seehofer ineinander verharkt, dass selbst das bislang Undenkbare laut gedacht wird: CDU und CSU gehen getrennte Wege und kündigen die Fraktionsgemeinschaft auf, mehr noch, die CDU tritt bei der Landtagswahl in Bayern an und macht damit endgültig alle Hoffnungen der CSU auf eine Verteidigung der absoluten Mehrheit zunichte. Bislang nur Gedankenspiele, wohl wahr, aber allein dass sie ausgesprochen werden, belegt den Ernst der Lage in Berlin.
Kommt es zu einem Ende von Merkels Kanzlerschaft?
Der heutige Montag könnte zum Schicksalstag von Horst Seehofer und Angela Merkel werden. Fast schon wie in einer griechischen Tragödie ist ihr Schicksal untrennbar miteinander verwoben. Wenn der CSU-Chef und Innenminister tatsächlich seinen Worten Taten folgen lässt und noch am Montag die Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutschen Grenze anordnet, provoziert er die Entlassung durch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Doch mit seinem Sturz reißt Seehofer auch die Regierungschefin in die Tiefe. Es wäre das unrühmliche Ende ihrer Kanzlerschaft. Misstrauensvotum und Auflösung des Bundestags würden folgen, kaum vorstellbar, dass sie bei den dann notwendig werdenden Neuwahlen noch einmal antritt. Jenseits des aktuellen Streits mit der CSU ist in der CDU die Erkenntnis weitverbreitet, dass man nur ohne Merkel eine Chance bei Neuwahlen hat. Im Augenblick spräche alles für Annegret Kramp-Karrenbauer.
Chronologie: Der Asyl-Streit zwischen CSU und CDU
31. August 2015: "Wir schaffen das", sagt Merkel über die Bewältigung der Flüchtlingszahlen. Kurz darauf schließt sie nicht die Grenzen, als Schutzsuchende massenweise von Ungarn über Österreich nach Deutschland einreisen. Seehofer nennt das einen Fehler.
9. Oktober 2015: Der CSU-Chef droht mit einer Verfassungsklage, falls der Bund den Flüchtlingszuzug nicht eindämmen sollte. Nach einer Aussprache mit der CDU legt er das Vorhaben kurz darauf ad acta.
20. November 2015: Auf dem CSU-Parteitag in München kritisiert Seehofer die Kanzlerin auf offener Bühne, während sie neben ihm steht.
3. Januar 2016: Seehofer fordert erstmals eine konkrete Obergrenze: maximal 200.000 neue Flüchtlinge pro Jahr. Merkel ist strikt dagegen.
9. Februar 2016: Seehofer nennt die offenen Grenzen für Flüchtlinge im Herbst 2015 "eine Herrschaft des Unrechts".
4./5. November 2016: Merkel nimmt erstmals nicht an einem CSU-Parteitag teil.
20. November 2016: Merkel kündigt ihre vierte Kanzlerkandidatur an.
24. November 2016: Der CSU-Chef macht eine Begrenzung der Zuwanderung zur Bedingung für eine erneute Regierungsbeteiligung.
6. Februar 2017: Seehofer erklärt offiziell, die CSU unterstütze Merkel bei der Bundestagswahl. Zuvor war lange ein eigener Kanzlerkandidat nicht ausgeschlossen.
1. April 2017: In einem Interview bezeichnet Seehofer Merkel als "unser größter Trumpf". Nur mit ihr sei die Wahl zu gewinnen.
3. Juli 2017: Eine Obergrenze für Flüchtlinge kommt im Wahlprogramm der Union nicht vor. Im gesonderten CSU-Programm "Bayernplan" wird sie aber festgehalten. Seehofer macht sie erneut zur Koalitionsbedingung.
20. August 2017: In einem Interview nennt Seehofer eine Obergrenze nicht mehr ausdrücklich als Bedingung für eine Koalition nach der Wahl.
24. September 2017: Trotz Verlusten gewinnt die Union die Bundestagswahl, doch die CSU stürzt auf für ihre Verhältnisse katastrophale 38,8 Prozent ab. Fehler der Union im Wahlkampf sieht Merkel nicht.
8. Oktober 2017: Vor anstehenden Gesprächen mit anderen Parteien über mögliche Koalitionen verständigen sich CDU und CSU auf das Ziel, maximal 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen. Ausnahmen sind möglich. Das Wort "Obergrenze" taucht in der Einigung nicht auf.
15. Dezember 2017: Merkel ist wieder auf dem CSU-Parteitag zu Gast. Die Schwesterparteien demonstrieren Geschlossenheit.
12. März 2018: Union und SPD unterschreiben ihren Koalitionsvertrag. Seehofer wird als Innenminister in Merkels viertem Kabinett zuständig für Migration und Flüchtlinge. Er kündigt einen "Masterplan für schnellere Asylverfahren und konsequentere Abschiebungen" an.
15. März 2018: Seehofer sagt: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Die Kanzlerin grenzt sich von ihm ab.
10. Juni 2018: In der ARD-Sendung "Anne Will" spricht sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegen die CSU-Forderung nach einer Zurückweisung bestimmter Asylbewerber an der deutschen Grenze aus. Sie wolle, dass Deutschland "nicht einseitig national" handle.
11. Juni 2018: Seehofer verschiebt überraschend die für den Folgetag geplante Vorstellung seines Masterplans. Hintergrund sind Differenzen mit Merkel über die Zurückweisung von Flüchtlinge an der Grenze, einem wichtigen Punkt des Masterplans.
12. Juni 2018: Die CSU beharrt auf ihrer Forderung – und setzt auf eine Konfrontation mit der Kanzlerin: "Wir setzen den Punkt durch", sagt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Unterstützung bekommt Seehofer derweil auch aus den Reihen der CDU. Das wird auch in einer gemeinsamen Sitzung der Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU deutlich.
13. Juni 2018: Ein abendliches Krisentreffen zwischen Merkel und Seehofer endet ohne Annäherung. Merkel will zwei Wochen Zeit gewinnen und bis zum EU-Gipfel Ende Juni bilaterale Vereinbarungen mit anderen Staaten treffen. Die CSU lehnt das ab: Sie will umgehend auf nationaler Ebene handeln, bevor es mögliche europäische Schritte gibt.
14. Juni 2018: Der Konflikt eskaliert: Eine laufende Bundestagsdebatte muss unterbrochen werden, die Abgeordneten von CDU und CSU beraten in getrennten Sitzungen mehr als vier Stunden lang über den Asylstreit. Seehofer droht Merkel mit einem "Alleingang". Eine Entlassung des Innenministers, ein Bruch der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU oder gar der Regierungskoalition – zwischenzeitlich erscheinen viele Szenarien möglich.
15. Juni 2018: Der Bundestag befasst sich in einer aktuellen Stunde mit der Flüchtlingspolitik. Die Opposition kritisiert die Union dabei wegen des Asylstreits scharf. Derweil beharren CDU und CSU auf ihren Positionen.
16. Juni 2018: CDU-Politiker warnen die CSU eindringlich vor einem Bruch der Union und fordern Kompromissbereitschaft.
17. Juni 2018: Eine Annäherung zeichnet sich über das Wochenende nicht ab – die Fronten bleiben verhärtet.
18. Juni 2018: Der Streit wird vertagt. CDU und CSU einigen sich darauf, dass Merkel zwei Wochen Zeit bekommt, um in der Flüchtlingsfrage bilaterale Abmachungen mit anderen EU-Staaten zu erreichen. Erst dann soll über mögliche Zurückweisungen an der Grenze entschieden werden, es gebe keinen "Automatismus", hob Merkel hervor. Umgehend zurückgewiesen werden sollen aber Flüchtlinge mit Einreise- oder Aufenthaltsverbot. Zugleich droht Merkel Seehofer am Montag mit ihrer "Richtlinienkompetenz" als Kanzlerin. (dpa/AFP)
Es ist mehr als eine Auseinandersetzung zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel, deren komplizierte Beziehung schon seit langem die Regierungsarbeit überschattet, es ist auch mehr als nur ein Streit um einen Aspekt der Flüchtlingspolitik. Die Frage, ob Deutschland das Recht – und sogar die Pflicht! – hat, Flüchtlinge zurückzuweisen, legt einen fundamentalen Dissens zwischen den beiden Schwesterparteien offen. Wenn der neue bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagt, die Zeit des „geordneten Multilateralismus“ sei vorbei, legt er die Axt an die Wurzel der bisherigen Europapolitik der Union, die Angela Merkel verzweifelt zu retten versucht. Unverdrossen kämpft sie für eine europäische Lösung, obwohl diese bereits seit Jahren versprochen wird und sich auch im Vorfeld des EU-Gipfels in zwei Wochen nicht abzeichnet.
Merkel wirkt wie aus der Zeit gefallen
Merkels persönliche Tragik ist, dass sie nach zwölf Jahren im Amt wie aus der Zeit gefallen, müde und ratlos wirkt. In einer Welt, in der nicht nur Trump, Putin und Erdogan, sondern auch immer mehr europäische Partner auf den starken Nationalstaat und Alleingänge setzen, verkörpert nicht mehr sie, sondern Markus Söder den neuen Zeitgeist. Dabei ist völlig offen, ob dieses neue nationale Muskelspiel zu besseren Ergebnissen und langfristigen Lösungen führt, doch als Alternative zum mutlosen, sich in endlosen Verhandlungen erschöpfenden Multilateralismus wirkt es erfrischend und unverbraucht.
Was heißt das für CDU und CSU? Der aktuelle Streit legt die tektonischen Verschiebungen offen zutage. Mehr Europa? Oder mehr Deutschland? Gemeinsame Lösungen oder nationale Alleingänge? Es geht um Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt. Darum ist dieser Konflikt so heftig. Und darum muss er auch ausgetragen werden. Notfalls müssen CDU und CSU getrennte Wege gehen. Was im restlichen Europa längst geschehen ist, erreicht nun auch mit Verzögerung Deutschland: Die Parteienlandschaft zerbricht und sortiert sich neu. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
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