Jaques Delors, der große Europäer, hat buchstäblich Grenzen überwunden. Nach einem Jahrzehnt der Stagnation ebnete er als Präsident der EU-Kommission den Boden für den gemeinsamen Binnenmarkt, dem später auch noch eine gemeinsame Währung folgen sollte. Nie mit dem Erreichten zufrieden sein – das war für den Sozialisten aus Paris Antrieb und Verpflichtung zugleich. „Europa ist wie ein Fahrrad“, sagte Delors einmal. „Steht es still, fällt es um.“
Der Zusammenhalt in der Europäischen Union hat Risse
35 Jahre später steht Europa faktisch still. Den Brexit hat die EU noch nicht verdaut, im Streit um die polnische Justizreform ist weit und breit keine Lösung zwischen Warschau und Brüssel in Sicht, der Migrationsdruck auf die Länder an der östlichen Flanke nimmt zu, seit der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko Flüchtlinge als politische Manövriermasse missbraucht – und in Frankreich wäre Präsident Emmanuel Macron zwar gerne so etwas wie ein zweiter Delors, doch auch dort haben die antieuropäischen Fliehkräfte ein gefährliches Ausmaß erreicht. Die faszinierende Idee von einem einigen, friedlichen Europa hält die Gemeinschaft zwar noch einigermaßen zusammen. An vielen Ecken des gemeinsamen Hauses aber beginnt es unübersehbar zu bröckeln.
Die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den etablierten Bewohnern des europäischen Westens und den neuen Mitbewohnern aus Polen, Ungarn oder der Slowakei sind dabei nur die Symptome eines fundamentalen, bis heute nicht aufgelösten Widerspruchs. Die Osterweiterung der EU war nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein Projekt von Delorschen Dimensionen – gelockt aber wurden die ehemaligen sowjetischen Vasallenstaaten vor allem mit der Aussicht auf üppige Alimentation aus Brüssel. Dass sie dafür auch ein Stück ihrer gerade erst gewonnenen Souveränität wieder abgeben mussten: damit tun Länder wie Polen sich bis heute schwer. Nach vier Jahrzehnten Sozialismus ist ihr Freiheitsdrang ausgeprägter als der von Deutschen, Belgiern oder Italienern. Das rechtfertigt nicht alles, aber es erklärt einiges. Wie schon bei der deutschen Einheit hat auch in EU-Europa der westliche Teil die Befindlichkeiten des östlichen lange unterschätzt, wenn nicht gar ignoriert. Entsprechend tief sind die Gräben mit der Zeit geworden.
Die Mitgliedsländer der EU wachsen nicht mehr weiter zusammen
So triumphiert inzwischen das Trennende über das Verbindende. Die Regierung in Polen will ein anderes Europa – und die EU ein anderes Polen. Italien will möglichst billiges Geld von der gemeinsamen Zentralbank – und Deutschland höhere Zinsen. Macron sieht sich als europäischer Erneuerer, läuft damit aber Gefahr, die Präsidentschaftswahl im April zu verlieren. Großbritannien hat mit dem Brexit gezeigt, dass die Mitgliedschaft eines Landes in der Europäischen Union kein Projekt für die Ewigkeit sein muss – zumal in einer Union, deren geopolitische und ökonomische Bedeutung rasant schwindet.
Im Moment hält vor allem das Geld die EU zusammen – allen voran die zu erwartenden Milliarden aus dem Klimafonds. 65 Jahre nach den römischen Verträgen ist die europäische Integration an einen Punkt gekommen, an dem mehr Integration nicht automatisch zu mehr Europa führt, sondern eher ins Gegenteil. Dabei zieht jedes Mitglied für sich seine eigenen roten Linien: In Polen ist es die Justizreform, in Frankreich die Aufnahme von Flüchtlingen und in Deutschland womöglich bald das weitere Vergemeinschaften von Schulden. In dem Moment jedoch, in dem Europa nicht mehr als bereichernd, sondern als begrenzend und bevormundend wahrgenommen wird, verliert es auch seine politische Legitimation. Die Gefahr, dass Delors’ Fahrrad aus dem Gleichgewicht gerät, ist größer denn je. Auch in Frankreich nehmen die Fliehkräfte zu.