Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Kommentar: Erleichterung nach einem Prozess, den es nicht hätte geben dürfen

Kommentar

Erleichterung nach einem Prozess, den es nicht hätte geben dürfen

    • |
    Menschenrechtler Peter Steudtner vor dem Silivri-Gefängnis: Nach mehr als drei Monaten wurde er aus der U-Haft in der Türkei entlassen.
    Menschenrechtler Peter Steudtner vor dem Silivri-Gefängnis: Nach mehr als drei Monaten wurde er aus der U-Haft in der Türkei entlassen. Foto: Emrah Gurel, dpa

    Das Verfahren war ein Armutszeugnis für den türkischen Staat, der Menschen einsperren lässt, die sich für andere einsetzen. Und wurde zu einer schweren und dazu auch noch völlig unnötige Belastung der deutsch-türkischen Beziehungen.

    Die Absurdität der Vorwürfe gegen Steudtner und die anderen Angeklagten macht deutlich, was sich derzeit in der Türkei abspielt. Die Staatsgewalt geht gegen alle vor, die sich dem Verdacht aussetzen, nicht völlig auf Linie zu sein. Dabei reicht – wie bei den Menschenrechtlern – häufig eine Denunziation. Fakten sind Nebensache. Irgendwann wird ein solcher Fall zu einem Selbstläufer: Die Justiz will nicht zugeben, dass an ihren Vorwürfen nichts dran ist, und treibt selbst die aberwitzigsten Anklagen voran. Das Ergebnis ist ein Verfahren wie das gegen Steudtner, bei dem ein elektronisches System zur Erfassung von Auslandsdeutschen zu einem Spionagewerkzeug umgedeutet wird.

    Für viele zehntausend Betroffene bedeutet dies Untersuchungshaft, die nach den Regeln des geltenden Ausnahmezustandes bis zu sieben Jahre lang währen kann. Anonyme Zeugen, die von der Verteidigung nicht ins Kreuzverhör genommen werden können, und die Verweigerung von Akteneinsicht für die Anwälte der Angeklagten markieren ebenfalls den Abbau rechtsstaatlicher Regeln im Land seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres. Selbst bei Verbündeten der Türkei wie in Deutschland und in den USA kommt der Verdacht auf, westliche Ausländer würden in einer Art Geiselhaft gehalten. Vorwürfe, im Verfahren gegen Steudtner und die anderen Menschenrechtler seien Beweismittel manipuliert worden, verstärken dieses Misstrauen.

    Im Fall Deniz Yücel zeichnet sich keinerlei Abrücken von der harten Linie ab

    Bis zum Mittwoch gab es nur wenige Anzeichen dafür, dass die Regierung in Ankara beunruhigt darüber ist, welchen Schaden solche Verfahren für das Bild der Türkei im Ausland anrichten. Im Fall Steudtner hatte sich immerhin Außenminister Cavusoglu eingeschaltet, doch bei anderen Angeklagten wie dem Journalisten Deniz Yücel zeichnet sich keinerlei Abrücken von der harten Linie ab. Präsident Erdogan schimpft unterdessen über angebliche ausländische „Agenten“, die sein Land zerstören wollten.

    Deutsche Gefangene in der Türkei

    In der Türkei sind mindestens sechs Bundesbürger aus politischen Gründen inhaftiert, die Dunkelziffer dürfte noch höher sein.

    Die Inhaftierungen haben eine schwere Krise zwischen Berlin und Ankara ausgelöst.

    Die Bundesregierung fordert die Freilassung der Deutschen.

    Das sind die Gefangenen:

    Ilhami A. (46)aus Hamburg: Der Taxifahrer aus Hamburg wurde Mitte August in der osttürkischen Provinz Elazig verhaftet. Der Vorwurf lautet Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei und der EU als Terrororganisation gilt.

    Dennis E. (55) aus Hamburg: Auch im Fall Dennis E. geht es um Facebook-Posts und den Vorwurf der Terrorpropaganda für die PKK. Die türkische Polizei nahm den 55-Jährigen Ende Juli bei einem Besuch im südtürkischen Iskenderun fest, wo er auch inhaftiert ist. 

    Hozan Cane (Mitte 40) aus Köln: Polizisten hielten vor den Wahlen Ende Juni einen Bus der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP an und nahmen die kurdischstämmige Sängerin mit dem Künstlernamen Hozan Cane mit. Cane hatte im westtürkischen Edirne eine Wahlkampfveranstaltung der HDP unterstützt. Ihr wird die Mitgliedschaft in der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen. 

    Adil Demirci (Anfang 30) aus Köln: Der Sozialarbeiter war Mitte April in Istanbul festgenommen worden. Er schrieb aus Deutschland frei für die linke Nachrichtenagentur Etha, für die auch Mesale Tolu arbeitete. Wie Tolu wird Demirci Mitgliedschaft in der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei vorgeworfen. Die MLKP gilt in der Türkei als Terrororganisation. 

    Patrick K. (29) aus Gießen: Patrick K. war Mitte März nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu im türkisch-syrischen Grenzgebiet festgenommen worden. Anadolu schreibt, er habe sich in Syrien der Kurdenmiliz YPG anschließen wollen. Nach Angaben seiner Familie war K. zum Wandern in der Türkei. 

    Enver Altayli (73): Schon ein Jahr lang sitzt Altayli ohne Anklage in Einzelhaft - seine Familie macht sich Sorgen um seine Gesundheit. Altayli ist Jurist und arbeitete in den 60er Jahren für den türkischen Geheimdienst MIT. Im August vergangenen Jahres war er in Antalya festgenommen worden, wo die Familie eine Ferienanlage betreibt. Ihm wird Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist.

    Diese Deutschen wurden mittlerweile freigelassen und konnten in ihre Heimat zurückkehren:

    Peter Steudtner (45): Der Menschenrechtler ist Ende Oktober nach mehr als drei Monaten in Untersuchungshaft freigekommen.

    Mesale Tolu (34) kehrte am 26. August 2018 zurück in ihre Heimat Neu-Ulm. Die Journalistin war im April 2017 von schwer bewaffneten Polizisten festgenommen. Nach 17 Monaten in Gefangenschaft konnte sie nach Deutschland zurückkehren.

    Deniz Yücel: Der44-Jährige saß vom 14. Februar 2017 bis zum 16. Februar 2018 wegen angeblicher Terrorpropaganda in türkischer Untersuchungshaft. Nach rund einem Jahr konnte der Korrespondent nach Deutschland zurückkehren.

    Das lässt westlichen Regierungen wie der in Berlin keine Wahl. Eine Normalisierung oder Wiederannäherung zwischen den früheren engen Partnern Türkei und Deutschland bleibt ohne Zeichen des guten Willens auf türkischer Seite undenkbar. Kein deutscher Regierungspolitiker kann mit Ankara über eine Rückkehr zu besseren politischen oder wirtschaftlichen Beziehungen sprechen, solange Bundesbürger wie Steudtner oder Yücel aus fadenscheinigen juristischen oder offensichtlich politischen Gründen hinter Gittern sitzen. Der Preis, den die Türkei dafür zahlt, wird immer höher. Zur politischen Image-Katastrophe gesellt sich ein wirtschaftlicher Schaden, etwa durch die Kappung von deutschen Hermes-Bürgeschaften.

    Mit der Prozesseröffnung gegen Steudtner, bei der die ganze Absurdität des Verfahrens öffentlich sichtbar wurde, manövrierte sich die Türkei noch ein Stück weiter in die Ecke. Möglicherweise deshalb zog das Gericht in Istanbul die Notbremse und ließ alle Angeklagten frei. Steudtner darf nach Berlin heimkehren. Der Schluss liegt nahe, dass der plötzliche Sinneswandel weniger mit einer juristischen Erleuchtung der beteiligten Staatsanwälte zu tun hatte als mit möglichen diskreten politischen Fingerzeigen aus der türkischen Hauptstadt. Wie auch immer: Die Freilassung Steudtners ist ein erstes positives Zeichen nach einer langen Zeit eskalierender Spannungen.

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Umfrageinstitut Civey zusammen. Was es mit den Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Mehr zur Türkei lesen Sie hier in unserem News-Blog.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden