Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Dienstagabend in Ankara zur Pressekonferenz baten, war der Gastgeber nicht mehr dabei. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte offensichtlich keine Lust, sich über rechtsstaatliche Defizite belehren zu lassen. Vielleicht fieberte der Autokrat zu diesem Zeitpunkt lieber den harten Urteilen entgegen, die in dem Mammutprozess gegen mutmaßliche Putschisten von 2016 am Tag darauf zu erwarten waren.
Von der Leyen und Michel konnten so ungestört ihre Kritik vortragen, um dann über den möglichen Ausbau der Beziehungen zu referieren. Da ging es um Themen wie die Vertiefung der Zollunion oder der technologischen Kooperation. Bescheidene Ziele, wenn man sich an die Euphorie auf allen Seiten 2005 erinnert, als die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei starteten.
Der Besuch des EU-Duos wurde hart kritisiert
Der Besuch des EU-Duos wurde hart kritisiert: Wie könne man einem „Sultan“ die Aufwartung machen, der Kritiker festnehmen lässt, Finanzexperten nach Gusto entlässt, der aus einem Abkommen gegen Gewalt an Frauen aussteigt, dessen Truppen in Syrien stehen, der trotz eines UN-Verbots zarte Friedenshoffnungen in Libyen mit Waffenlieferungen gefährdet?
Die Liste ist lang. Dennoch ist es richtig, zu verhandeln. Es ist naiv zu glauben, dass es der EU in erster Linie um die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei geht. Wichtig ist Brüssel neben der Beilegung des Konflikts zwischen Ankara und Athen um Bodenschätze im Mittelmeer, dass Erdogan die über drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien, die in dem Land leben, nicht gen Westen durchwinkt. Der Pakt ist alles andere als perfekt – ein abruptes Scheitern wäre jedoch fatal.
Macht sich die EU erpressbar? Zu einem gewissen Grad schon, allerdings ist Erdogan auf das Geld aus dem Flüchtlingsdeal angewiesen. Der Westen darf bei Gesprächen über strategische und ökonomische Themen nicht ausblenden, dass von den Grundrechten, die man einfordert, in der Türkei kaum noch etwas übrig ist. Sanktionen müssen eine Option sein. Weder von der Leyen noch Michel haben sich bei ihrer Visite mit Vertretern der Opposition getroffen. Mit Kräften also, die eines Tages Partner sein könnten. Doch gerade sie brauchen jetzt Unterstützung von außen wie die Luft zum Atmen.
Das System Erdogan erodiert
Unübersehbar ist, dass das System Erdogan erodiert. Es fällt der Regierungspartei AKP immer schwerer, Wähler zu mobilisieren – sie ist zudem durch Abspaltungen geschwächt. Die Wirtschaft befindet sich in einer Dauerkrise. Unter der Inflationsrate von 16 Prozent leiden alle Türken. Erdogan reagiert wie die Karikatur eines alternden Despoten. Er schlägt um sich.
Das zeigt sich exemplarisch an seinem Umgang mit dem Putsch von 2016, dem Prozesse mit Hunderten Angeklagten folgten. Viele der verurteilten Militärs bestritten, Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu sein, den die Regierung für den Putsch verantwortlich macht. Vielmehr hätten sie am Umsturzversuch teilgenommen, um die Werte des Staatsgründers Kemal Atatürk, der eine strikte Trennung zwischen Religion und Staat durchsetzte, zu verteidigen. Das ist glaubwürdig, wenn man die antiislamistische Geschichte der türkischen Streitkräfte betrachtet. Erdogan instrumentalisiert den Putsch, um seine Macht auf allen Ebenen durchzusetzen. Die gnadenlose Verfolgung mutmaßlicher Staatsfeinde steigert sich in eine Hysterie, die das Land lähmt.
Der Präsident teilt seine Gegner in zwei Gruppen: kurdische Terroristen oder eben Gülen-Anhänger. Er bekämpft sie mit wachsendem Fanatismus – dennoch werden es immer mehr.
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