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Kommentar: Eine verpasste Chance bei der Präsidentenwahl

Kommentar

Eine verpasste Chance bei der Präsidentenwahl

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    Christian Wulff und seine Ehefrau Bettina.
    Christian Wulff und seine Ehefrau Bettina.

    Für einen kurzen historischen Augenblick sah es so aus, als ob die politischen Verhältnisse der Republik ins Tanzen geraten könnten. Eine große Zahl von Delegierten des schwarz-gelben Lagers weigerte sich im ersten und zweiten Wahlgang, der Parteiräson zu folgen und den von Angela Merkel vorgesetzten Kandidaten Wulff zum Präsidenten zu wählen. Eine Niederlage des niedersächsischen Regierungschefs und ein Sieg des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers Joachim Gauck:

    Das wäre einem politischen Erdbeben gleichgekommen und hätte einen Bruch mit der unseligen Tradition bedeutet, wonach auch das höchste, auf Überparteilichkeit angelegte Staatsamt nach den Spielregeln der Macht- und Koalitionspolitik besetzt wird.

    Am Ende jedoch ist es so gekommen, wie es - nach den Gesetzen unserer Parteiendemokratie - zu erwarten war. Die schwarz-gelbe Mehrheit in der Bundesversammlung hat mit Hängen und Würgen gehalten. Die Parteidisziplin und die Angst vor einer unkontrollierbaren Existenzkrise der Koalition haben letztlich über die Versuchung obsiegt, von der vorgegebenen Linie abzuweichen und der Kanzlerin mehr als nur einen kapitalen Denkzettel zu erteilen. Wulff kann mit diesem glanzlosen Ergebnis leben. Auch die Präsidenten Heinemann (SPD) und Herzog (CDU) benötigten mehrere Wahlgänge, ohne dass dies ihrem Ansehen im Amt geschadet hätte. Die Kanzlerin jedoch geht geschwächt aus dieser Zitterpartie hervor.

    Nicht dass sie nun um ihren Posten bangen müsste - es gibt zur Stunde niemanden, der sie aus dem Sattel heben könnte.

    Auch das Bündnis von CDU/CSU und FDP steht jetzt - noch? - nicht auf der Kippe. Aber Merkels Rechnung, mit der Nominierung Wulffs sowohl ihre Führungskraft als auch die Handlungsfähigkeit der konservativ-liberalen Koalition zu beweisen, ist nicht aufgegangen. Dazu hätte es eines klareren Votums bedurft. Merkel kommt mit einem dicken blauen Auge davon. Aber der 30. Juni könnte sich eines Tages im Rückblick als der Beginn einer schleichenden Erosion ihrer Machtbasis erweisen. Es war eben ein Fehler, die Chance auf einen gemeinsamen Kandidaten namens Joachim Gauck nicht beim Schopf zu packen.

    Stattdessen hat Merkel die klassische Parteilösung gewählt. Sie hat Wulff als Nachfolger Horst Köhlers durchgepaukt, das schon. Aber um einen sehr hohen Preis. Sie steht nun als eine Kanzlerin da, die ihre Mehrheit im Ernstfall nicht organisieren kann. Und sie hat, was im Blick auf das Ganze viel wichtiger ist, die Gelegenheit versäumt, ein Zeichen gegen die wachsende Abneigung des Volkes gegen den parteipolitischen Betrieb zu setzen. Machtsicherung war Merkels erstes und wichtigstes Anliegen, nicht die Besetzung des Präsidentenamtes mit einem unabhängigen, über den Parteien und deren Gezänk stehenden Mann.

    In dem schlechten Ergebnis für Wulff spiegeln sich sowohl der Unmut über Merkel, Westerwelle und die Koalition als auch die Attraktivität des Gegenkandidaten Gauck wider. Wulff hat das Zeug zum Bundespräsidenten. Er ist ein vergleichsweise junger, vielfältig erprobter Mann der Mitte, der zusammenführen kann und in der Lage sein dürfte, die Deutschen für sich zu gewinnen. Noch jeder Präsident hat es zu einiger Beliebtheit gebracht. Wulff haftet allerdings der Makel an, als typischer Parteikarrierist ins Schloss Bellevue einzuziehen.

    In der Begeisterung für den charismatischen Pastor und Stasi-Aufklärer Gauck ist ja auch die Enttäuschung über die Winkelzüge und Manöver der Parteipolitik zum Vorschein gekommen. Und natürlich war Gauck die spannendere, die charmantere Variante: Ein Mann, der glaubwürdig und authentisch wirkt. Einer, der mit der Macht des Wortes Orientierung geben kann und auf Distanz zu den Parteien ist, ohne reflexhaft Parteienschelte zu betreiben.

    Seine Wahl wäre ein Signal dafür gewesen, dass die Regierenden die Kluft zwischen sich und den Regierten zu überwinden suchen. Die Sehnsucht im Volk nach einer moralischen Führungsfigur, die nicht in den Kategorien parteipolitischer Apparate denkt, ist ja vor dieser Wahl besonders spürbar gewesen. Dahinter steckt der Verdruss über den ungezügelten Machtanspruch der Parteien.

    Der große Zuspruch für die Kandidatur Gaucks und der Mini-Aufstand im schwarz-gelben Lager sollte den Parteistrategen eine Lehre sein, die Anliegen der Bevölkerung und deren Wunsch nach einer lebendigeren Demokratie endlich ernst zu nehmen. Von Walter Roller

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