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Kommentar: Die deutsche Regierung muss Erdogan in die Schranken weisen

Kommentar

Die deutsche Regierung muss Erdogan in die Schranken weisen

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    Seit Monaten fordern Unterstützer, die Journalistin und Übersetzerin freizulassen.
    Seit Monaten fordern Unterstützer, die Journalistin und Übersetzerin freizulassen. Foto: Stefan Puchner, dpa

    Wer Geiseln nimmt, verbindet damit böse Absichten. In der Regel will der Geiselnehmer etwas erpressen – oftmals Geld, es kann aber auch zum Beispiel um Wohlverhalten gehen. Dann ist die Gemeinschaft, zu der das Opfer gehört, zur Untätigkeit oder sogar zu Gegenleistungen verpflichtet, um die Geisel nicht zu gefährden.

    Darum geht es auch in dem üblen Spiel, das der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Geiseln aus westlichen Ländern, vor allem aus Deutschland, treibt. Hätte Erdogan am persönlichen Auftreten oder an der Arbeitsweise der Neu-Ulmer Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu (darum geht es in dem Fall), des Menschenrechts-Aktivisten Peter Steudtner und weiterer Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit Anstoß genommen, hätte er sie ja des Landes verweisen lassen können.

    Aber nein, er ließ sie unter fadenscheinigen Anschuldigungen inhaftieren und setzt sie jetzt allen Schikanen aus, die das türkische Rechtswesen und der dortige Strafvollzug zu bieten haben. Das zeigt, dass es um mehr geht: um die bewusste Demütigung von Menschen, die nicht nach Erdogans Pfeife tanzen, gleichzeitig um eine Warnung an deren Gesinnungsgenossen und schließlich um eine Drohung an die Adresse des deutschen Staates, der in diesen Fällen schmerzlich seine Ohnmacht erleben muss.

    Deutsche Gefangene in der Türkei

    In der Türkei sind mindestens sechs Bundesbürger aus politischen Gründen inhaftiert, die Dunkelziffer dürfte noch höher sein.

    Die Inhaftierungen haben eine schwere Krise zwischen Berlin und Ankara ausgelöst.

    Die Bundesregierung fordert die Freilassung der Deutschen.

    Das sind die Gefangenen:

    Ilhami A. (46) aus Hamburg: Der Taxifahrer aus Hamburg wurde Mitte August in der osttürkischen Provinz Elazig verhaftet. Der Vorwurf lautet Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei und der EU als Terrororganisation gilt.

    Dennis E. (55) aus Hamburg: Auch im Fall Dennis E. geht es um Facebook-Posts und den Vorwurf der Terrorpropaganda für die PKK. Die türkische Polizei nahm den 55-Jährigen Ende Juli bei einem Besuch im südtürkischen Iskenderun fest, wo er auch inhaftiert ist. 

    Hozan Cane (Mitte 40) aus Köln: Polizisten hielten vor den Wahlen Ende Juni einen Bus der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP an und nahmen die kurdischstämmige Sängerin mit dem Künstlernamen Hozan Cane mit. Cane hatte im westtürkischen Edirne eine Wahlkampfveranstaltung der HDP unterstützt. Ihr wird die Mitgliedschaft in der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen. 

    Adil Demirci (Anfang 30) aus Köln: Der Sozialarbeiter war Mitte April in Istanbul festgenommen worden. Er schrieb aus Deutschland frei für die linke Nachrichtenagentur Etha, für die auch Mesale Tolu arbeitete. Wie Tolu wird Demirci Mitgliedschaft in der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei vorgeworfen. Die MLKP gilt in der Türkei als Terrororganisation. 

    Patrick K. (29) aus Gießen: Patrick K. war Mitte März nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu im türkisch-syrischen Grenzgebiet festgenommen worden. Anadolu schreibt, er habe sich in Syrien der Kurdenmiliz YPG anschließen wollen. Nach Angaben seiner Familie war K. zum Wandern in der Türkei. 

    Enver Altayli (73): Schon ein Jahr lang sitzt Altayli ohne Anklage in Einzelhaft - seine Familie macht sich Sorgen um seine Gesundheit. Altayli ist Jurist und arbeitete in den 60er Jahren für den türkischen Geheimdienst MIT. Im August vergangenen Jahres war er in Antalya festgenommen worden, wo die Familie eine Ferienanlage betreibt. Ihm wird Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist.

    Diese Deutschen wurden mittlerweile freigelassen und konnten in ihre Heimat zurückkehren:

    Peter Steudtner (45): Der Menschenrechtler ist Ende Oktober nach mehr als drei Monaten in Untersuchungshaft freigekommen.

    Mesale Tolu (34) kehrte am 26. August 2018 zurück in ihre Heimat Neu-Ulm. Die Journalistin war im April 2017 von schwer bewaffneten Polizisten festgenommen. Nach 17 Monaten in Gefangenschaft konnte sie nach Deutschland zurückkehren.

    Deniz Yücel: Der 44-Jährige saß vom 14. Februar 2017 bis zum 16. Februar 2018 wegen angeblicher Terrorpropaganda in türkischer Untersuchungshaft. Nach rund einem Jahr konnte der Korrespondent nach Deutschland zurückkehren.

    Gegenüber dem Geiselnehmer Erdogan sind der Bundesrepublik gleich in mehrfacher Hinsicht die Hände gebunden. Deutschland kann, darf und will nicht mit gleicher Münze zurückzahlen – das lässt schon das Grundgesetz nicht zu. Wir sind, anders als die heutige Türkei unter der Knute Erdogans, eine Demokratie und ein Rechtsstaat. Gleichzeitig darf Berlin eine weitere Eskalation nicht vorantreiben. Denn es steht viel auf dem Spiel. Nicht zuletzt der innere Friede in Deutschland, wo rund drei Millionen türkischstämmige Menschen leben. Erdogan hat bereits mehrfach angedeutet, dass er willens und in der Lage wäre, seine Anhänger innerhalb dieses Personenkreises gegen die Bundesregierung zu mobilisieren.

    Aber zur Untätigkeit verdammt ist die deutsche Politik keineswegs. Noch die alte Bundesregierung hat unter ihrem Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) einen Kurswechsel eingeleitet und zum Beispiel die Reisehinweise verschärft sowie die Unterstützung deutscher Investitionen in der Türkei zurückgefahren, was bei Erdogan immerhin ein Stirnrunzeln auslöste.

    Deutschland und die Türkei: ein aktuell schwieriges Verhältnis

    Aber das kann nur der Anfang gewesen sein. Die künftige Bundesregierung hat noch viel Luft nach oben. Insbesondere falls der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir neuer Außenminister werden sollte, dürfte der Ton rauer werden. Der türkischstämmige Schwabe Özdemir, der klipp und klar sagt: „Erdogan ist kein Präsident, sondern ein Geiselnehmer“, sollte dann zeigen, was er drauf hat.

    Was Präsident Erdogan schon über Deutschland gesagt hat

    „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ (Am 10. Februar 2008 vor 16 000 überwiegend türkischen Zuhörern in Köln)

    „Wer Deutschkenntnisse zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, verletzt die Menschenrechte.“ (Am 1. November 2011 in einem Interview der „Bild“-Zeitung)

    „Die Entscheidung, die das deutsche Parlament soeben getroffen hat, ist eine Entscheidung, die die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei ernsthaft beeinflussen wird.“ (Am 2. Juni 2016 in Nairobi nach der Resolution des Bundestages, das Massaker an Armeniern während des Ersten Weltkrieges durch das Osmanische Reich als Völkermord zu verurteilen)

    „Ihr habt das bei der Wiedervereinigung in noch größerem Ausmaß betrieben.“ (Am 10. August 2016 in Ankara nach Kritik aus Deutschland an den Entlassungen zehntausender Staatsbediensteter nach dem Putschversuch im Juli)

    „Ich glaube nicht an die deutsche Justiz und habe auch keinen Respekt vor der deutschen Justiz in diesem Zusammenhang.“ (Am 13. August 2016 in einem RTL-Interview über das vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Verbot einer Live-Schalte von Erdogan nach Köln im Juli)

    „Im Moment ist Deutschland eines der wichtigsten Länder geworden, in denen Terroristen Unterschlupf finden.“ (Am 3. November 2016 in Ankara nach deutscher Kritik an neuerlichen Festnahmen von Journalisten in der Türkei)

    „Ich dachte, dass der Nationalsozialismus in Deutschland beendet ist. Dabei dauert er immer noch an.“ (Am 5. März 2017 in Istanbul nach Absagen geplanter Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland) (dpa)

    Strategisch besteht freilich die Gefahr, dass die Türkei, jener eminent wichtige Staat an der Nahtstelle von Orient und Okzident, sich noch mehr Russland annähert. Ohne Rücksicht auf die Nato-Mitgliedschaft macht Erdogan bereits heute immer öfter gemeinsame Sache mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Im Syrien-Konflikt standen beide Regierungen ursprünglich in verfeindeten Lagern. Doch jetzt haben sie ihre Interessen offenbar aufeinander abgestimmt: Erdogan besteht nicht mehr auf dem Sturz des Assad-Regimes, wenn man ihm dafür im Kampf gegen die Kurden freie Hand lässt.

    Der Westen darf aus vielen Gründen die Türkei nicht abschreiben. Aber dieser Bündnispartner braucht eindeutig mehr Druck, um wieder in die richtige Spur zu kommen.

    Aktuelle Entwicklungen lesen Sie in unserem Türkeiblog: Erdogan: USA opfern Beziehung zu Türkei für scheidenden Botschafter

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