Wer einmal in Afghanistan war, der wird dieses Land nicht mehr vergessen können. Der Hindukusch wirkt, als ob er aus einem Gemälde der großen Meister direkt in die Wirklichkeit kopiert wurde. So groß, so gewaltig. Wie sich ein solcher Staat mit all seinen archaischen Strukturen, seinen Trennlinien, seinen ethnischen Verästelungen innerhalb kurzer Zeit von einer Gruppe bärtiger Islamisten einnehmen lässt, das wird wohl nur dann erklärbar, wenn man den Kontrast deutlich macht: Nicht die Taliban haben Afghanistan gewonnen - der Westen hat das Land verloren. Er hat sich unglaubwürdig gemacht, hat immer wieder jene Menschen enttäuscht, die auf ihn vertraut haben, bei ihm Schutz suchten.
Afghanistan ist Europa, war Amerika schlicht egal geworden. Nachdem dort nicht mehr die heldenhaften Geschichten vom Brunnenbohren und den fleißigen Mädchen in den Schulen gesponnen werden konnten, sondern die Erzählungen von schmutzigen Geschäften und aussichtslosen Deals handelten, verschwand der geplagte Staat von der Landkarte der öffentlichen Wahrnehmung. Die Afghanen seien jetzt selbst einmal dran mit dem Kämpfen, sagt US-Präsident Joe Biden. Es ist ein Satz, in dem so viel Zynismus steckt, dass er unerträglich ist.
Deutschland kann das Schicksal Afghanistans nicht egal sein
Es ist ein moralisches und politisches Versagen, das in seiner Dimension gar nicht groß genug eingeschätzt werden kann. Und das Problem wird für den Westen, oder was von ihm übrig blieb, mit dem Ende der Evakuierungsmaßnahme keinesfalls erledigt sein. Schon jetzt haben China und Russland damit begonnen, das Vakuum zu füllen. Beiden ist nicht an Menschenrechten oder Freiheiten für Frauen gelegen, sie suchen die Ausdehnung der eigenen Macht. Der Einfluss auf eine Region, die wie ein Pulverfass brodelt, wird immer geringer. Schon jetzt kann einem um die Zukunft Afghanistans nur bang sein.
Dass uns die nicht egal sein darf, ja: kann, haben die vergangenen 20 Jahre eindrucksvoll bewiesen. Die Terrorgefahr begleitet Deutschland seit Jahren und ist nicht loszulösen von außen- und innenpolitischen Fehleinschätzungen. Die Flüchtlingskrise hat Politik und Gesellschaft so tief geprägt, dass das Mantra „2015 darf sich nicht wiederholen“ schon zum Vortäuschen von echtem Handeln ausreicht. Ob es eine gute Idee ist, mit einem Staat wie Pakistan, dem nachgesagt wird, den Terror zu finanzieren, einen Flüchtlingsdeal auszuhandeln, darf getrost bezweifelt werden.
Biden trifft die nächste Fehlentscheidung
Das schlimmste an der jetzigen Situation ist, dass sie wohl unumkehrbar ist. Weder die Nato noch die USA als Weltmacht werden wieder Truppen nach Afghanistan verlagern. Es wäre auch aussichtslos. Was, was in den vergangenen 20 Jahren nicht erreicht worden ist, sollte jetzt besser, erfolgreicher laufen? Der Ur-Fehler, diesen Krieg unter naiven Gesichtspunkten zu beginnen, lässt sich nicht mehr revidieren.
Es wäre nun die Verantwortung von Präsident Biden gewesen, den Druck auf die Taliban so zu erhöhen, dass zumindest der Rettungseinsatz über den 31. August hinaus laufen kann. Er hat es nicht getan. Einen wirklichen Trumpf hatte er ohnehin nicht in der Hand: Der Westen hätte den Taliban Geld bieten müssen, um sich ihre Kooperation zu erkaufen. Doch ohne die Amerikaner werden nun auch die anderen Staaten keine Chance mehr haben, Menschen zu helfen. Das aber ist die endgültige Bankrott-Erklärung. Biden mag sich damit herausreden, dass es Trump war, der den Abzug der Truppen eingeleitet hat. Nun aber ist er der starke Mann im Weißen Haus. Leider war von vornherein zu befürchten, dass er sich anders entscheidet. Es war die nächste Fehlentscheidung.