Dieser Gipfel markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der EU. Sicherlich deswegen, weil die Gemeinschaft noch nie zuvor so viel Geld in die Hand genommen hat, um sich nach dem härtesten Konjunktureinbruch ihrer Historie gegenseitig zu helfen. Zweifellos auch deswegen, weil endlich einmal um die Rechtsstaatlichkeit gerungen wurde, nachdem jahrelang alle Versuche der vermeintlich mächtigsten Behörde der Gemeinschaft ins Leere gelaufen waren.
Aber unabhängig vom Ergebnis hat dieses Spitzentreffen auch gezeigt, dass die Zeiten der deutsch-französischen Führungsrolle vorbei sind. So wohltuend und wichtig der gemeinsame Vorstoß von Paris und Berlin für zunächst 500 Milliarden Euro zugunsten der besonders von der Pandemie betroffenen Länder auch war – dass Angela Merkel und Emmanuel Macron ihr Vorpreschen nicht mit den anderen Nettozahler-Regierungen abgesprochen hatten, fiel ihnen nun auf die Füße. In der Gemeinschaft ist ein weiteres Machtzentrum aus den Niederlanden, Dänemark, Schweden, Finnland und Österreich entstanden, das sich gegen das bereits bestehende Ost-Kartell der vier Visegrád-Staaten positioniert hat.
Die "sparsamen Fünf" fordern eine kontrollierte Ausgabe der Corona-Hilfen - das ist nicht verwerflich
Dass die fünf (als „geizig“ titulierten) Regierungen nicht früher in die deutsch-französische Linie einbezogen wurden, war ein schwerer Fehler. Denn die Staatenlenker aus Den Haag, Helsinki, Kopenhagen, Stockholm und Wien waren weder geizig noch sparsam. Sie pochten schlicht darauf, dass die Hilfen zur Beseitigung der Coronavirus-Schäden eben nicht nur freigiebig verteilt werden, sondern dass deren Ausgabe kontrolliert und gerechtfertigt erfolgen soll.
Das ist weder unanständig noch unmoralisch – es ist eine Konsequenz aus jenen 20 Jahren mit dem Euro als Zahlungsmittel, in der die einen verstanden haben, wie eine Währungsunion funktionieren muss, während die anderen immer noch ihrem Traum einer Transfer-Union zur Beseitigung ihres Schuldenbergs anhängen. Niemand darf Italien, Spanien oder den übrigen Süden dafür bestrafen wollen, dass die Pandemie in diesen Staaten besonders hart zugeschlagen hat. Aber die mangelnde Widerstandskraft der staatlichen Systeme hat eben auch etwas mit der Tatsache zu tun, dass deren Haushalte Lichtjahre von jeder vielfach versprochenen Solidität und Nachhaltigkeit entfernt sind. Man sollte nicht auf die Geberstaaten einprügeln, wenn sie auf Ausgabendisziplin der Empfänger pochen und – bildlich gesprochen – Belege sehen wollen.
In Brüssel wurden an diesem Wochenende viele alte Rechnungen hervorgeholt und jenen präsentiert, die immer nur darauf gesetzt haben, dass andere zahlen, ohne selbst Reformen anzupacken. Dennoch musste man sich über diesen Gipfel wundern.
Rechtsstaatlichkeit: Angela Merkel hat keinen Plan für Polen und Ungarn
Wochenlang hatten die Kanzlerin, aber auch das Führungspersonal des Europäischen Rates und der EU-Kommission Zeit, im Vorfeld Gespräche zu führen, Positionen und Spielräume abzufragen. Nun ist zwar bekannt, dass solche Begegnungen immer auch das politische Bedürfnis der handelnden Personen nach Selbstdarstellung vor dem heimischen Publikum befriedigen sollen. Kompromisse müssen nach hartem Ringen erkämpft sein und möglichst nach eigenem Sieg aussehen.
Doch es war lange klar, dass spätestens beim Thema Rechtsstaatlichkeit die Unterschiede offen aufbrechen würden. Dass selbst die Bundeskanzlerin keinen Plan B in der Tasche hatte, um Ungarn und Polen auf den Pfad der demokratischen Tugend zurückzuholen, blieb überraschend – und lässt Fragen nach dem Gewicht Merkels auf der europäischen Bühne aufkommen.
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