Der Vorfall klingt unglaublich und kommt einem auf bedrückende Weise bekannt vor: Ein unbescholtener schwarzer Amerikaner schläft in seinem Auto in der Warteschlange vor einem Wendy's Schnellrestaurant. Er behindert den Kundenfluss, der Imbiss ruft die Polizei. Zwei Beamte kommen. 40 Minuten später ist der 27-jährige Rayshard B. tot.
Zwar gibt es wichtige Unterschiede zwischen dem jüngsten Fall von Polizeigewalt in Atlanta und dem Tod von George Floyd vor drei Wochen in Minneapolis: Floyd erstickte wehrlos am Boden unter dem Knie eines brutalen Beamten. Rayshard B. ließ den Alkoholtest über sich ergehen, widersetzte sich aber der Festnahme. Bei dem Gerangel entwandt er einem Beamten eine Elektroschockpistole, mit der er den Polizisten auf der Flucht bedroht haben soll. Doch in beiden Fällen nimmt eine harmlose Ausgangssituation – ein gefälschter 20-Dollar-Schein bei Floyd, eine Verkehrsbehinderung bei Rayshard B. – in kürzester Zeit eine fatale Wendung, weil weiße Beamte völlig überzogen auf Regelverstöße von Afro-Amerikanern reagieren.
Trump hatte Polizisten zu härterem Vorgehen gegen die Demonstranten ermuntert
Angesichts der Fülle von Videos mit brutalen Polizei-Aktionen in den vergangenen Wochen könnte man den Eindruck gewinnen, die Sicherheitskräfte wollten unbedingt Belege für die Vorwürfe ihrer schärfsten Kritiker liefern. Doch tatsächlich ist das Problem schon lange gewaltig, und nur die öffentliche Sensibilität ist gestiegen. Die Missstände wurzeln im latenten Rassismus einer Gesellschaft, die sich mit Waffen hochrüstet, sie reichen über eine eher militärische Ausbildung und Ausrüstung der Polizei bis zu deren deren rechtlicher Immunisierung gegen Klagen.
Präsident Donald Trump hat weder den Rassismus noch die Polizeigewalt in den USA begründet. Aber er hat beides befeuert und hoffähig gemacht. Offen erklärte er nach den gewaltsamen Aufmärschen von Ultrarechten und Neonazis in Charlottesville, es gebe "gute Leute" auf beiden Seiten. Aufreizend ermunterte er Polizeibeamte in einer Rede, sie sollten festgenommene Verdächtige ruhig etwas härter anfassen und mit dem Kopf gegen den Türrrahmen des Dienstfahrzeugs knallen lassen. Das alles hat der unguten polizeilichen Kultur der Diskriminierung von Nicht-Weißen in den USA neue Nahrung gegeben.
Proteste gegen Rassismus: Die US-Polizei muss radikal reformiert werden
Wie schwierig es ist, die Praxis zu ändern, lässt sich gerade auf bedrückende Weise in Atlanta beobachten. Dort regiert eine schwarze Bürgermeisterin, und die weiße Polizeichefin hat die Kollegen in Minneapolis nach dem Floyd-Tod früh kritisiert. Sie hat Verständnis für die Wut und die Angst der Demonstranten geäußert. Im eigenen Revier hat sie in den vergangenen Tagen mehrere Beamte gefeuert oder in Zwangsurlaub geschickt. Die Schüsse vor dem Schnellrestaurant konnte sie trotzdem nicht verhindern. Kurz darauf ist Erika Shields von ihrem Posten zurückgetreten. Nun soll ein Afro-Amerikaner neuer Polizeichef der überwiegend schwarzen Millionenstadt werden.
Einfach wird er es nicht haben. Jahrzehntelang sind die Fehlentwicklungen geleugnet worden. In diese Tradition stellt sich nun Präsident Trump, wenn er von "einigen schwarzen Schafen" bei der Polizei spricht. So lässt sich das Problem nicht zukleistern. Und auch mit veränderten Vorschriften wie dem von vielen Städten inzwischen erlassenen Verbot des Würgegriffs alleine wird man dem Übel nicht bekommen. Erforderlich sind radikale Reformen in der Ausbildung, der Aufgabenbeschreibung, der Ausrüstung, der Kontrolle und der Ahndung von Fehlverhalten der Polizei. Das ist eine riesige Aufgabe, und die Widerstände dagegen werden gewaltig sein. Doch wenn der Kongress nicht zumindest die Kraft für grundlegende Weichenstellungen findet, könnten sich die überwiegend beeindruckend friedlichen Demonstrationen in den USA wieder radikalisieren. Dann würde bald mehr als eine Wendy's-Filiale in Atlanta brennen.
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