Wenn nicht gerade die nächste Impfdosen-Lieferung stockt, verbreiten Bundespolitiker mächtigen Stolz darüber, dass das erste heiß ersehnte Mittel gegen Corona aus deutschen Laboren stammt. Der Gründer des Tübinger Biotechnologie-Unternehmens Curevac, Ingmar Hoerr, hat die Grundlagen der modernen Generation programmierbarer mRNA-Impfstoffe vor gut 20 Jahren entdeckt. Die Pioniere der Mainzer Aktiengesellschaft Biontech, Ugur Sahin und Özlem Türeci, haben die Technologie als Erste zur Marktreife gebracht. Also alles gut im alten deutschen Pharmaland?
Nein, im Gegenteil: Deutschlands Pharmariesen, die sich einst als „Apotheke der Welt“ feierten, droht eine tief greifende Umwälzung ihrer bislang so hochprofitablen Branche. Es waren nicht international bekannte Namen wie Bayer, Merck, Novartis oder Hoffmann-La Roche, die den Durchbruch in der Corona-Impfstoff-Forschung lieferten, sondern gerade der Start-up-Phase entwachsene Hightech-Firmen wie Biontech, Moderna oder Curevac. Dieser Innovationssprung ist kein Zufall, sondern Teil einer historischen Entwicklung, wie man sie aus vielen Industrien kennt, am deutlichsten sichtbar wohl in der Automobilwelt.
Digitale Biotech-Stars treiben die alten Pharmariesen vor sich her
So wie die einst kleine Silicon-Valley-Klitsche Tesla mit ihren durchdigitalisierten Elektroautos Deutschlands Autobauern längst ernsthafte Existenzsorgen bereitet, so dürften in nicht allzu langer Zeit die neuen Biotech-Stars die etablierten Pharmariesen vor sich hertreiben. Die neuen Pioniere setzen voll auf Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Vernetzung und sind führend bei Innovationen.
Die sogenannten Messenger-RNA-Impfstoffe gegen Corona sind die Vorboten dieser Entwicklung. Sie greifen den Erreger mit einer nie gekannten Präzision und ebenso kaum erreichter Wirksamkeit und Verträglichkeit an. Das Coronavirus war als Glück im Unglück die historische Chance zu zeigen, dass die mRNA-Technologie tatsächlich in der Praxis funktioniert. Und dies weit besser als von Optimisten erwartet.
Gut möglich, dass diese Sensation in medizinischen Geschichtsbüchern der fernen Zukunft eine größere Rolle spielen wird als die Jahrhundert-Pandemie selbst. Denn eigentlich zielen die Macher hinter der mRNA-Behandlung auf Krebs- und andere Erkrankungen.
"Old Pharma" zum Auftragsproduzenten degradiert
In der Corona-Krise haben Biontech, Moderna und Co. Pharmariesen wie Pfizer oder Bayer faktisch zu Auftragsproduzenten degradiert. Zwar gelang dem Hersteller AstraZeneca die Entwicklung eines klassischen Impfstoffs – aber auch nur, weil er auf die jahrzehntelange Coronaviren-Forschung der Eliteuniversität Oxford zurückgreifen konnte. Die alte deutsche Pharmaindustrie wurde aus Innovationssicht dagegen selbst von den russischen Sputnik-V-Entwicklern vorgeführt.
Das Gegenstück zum Abgasskandal heißt „Scheininnovation“
So wie die Autobauer mit dem Abgasskandal vor dem Innovationsdruck kapitulierten, so betreibt auch die alte Pharmaindustrie längst fragwürdige Praktiken. Ihr Gegenstück zum Abgasskandal heißt „Scheininnovation“ und kommt die Verbraucher noch teurer. Bewährte Medikamente werden ohne erkennbaren Mehrwert durch neue, teurere ersetzt. Dies ist laut Krankenkassen ein wesentlicher Grund dafür, warum die Arzneimittelkosten in Deutschland binnen fünf Jahren um fast ein Viertel gestiegen sind. Die Kosten sind inzwischen so teuer wie die gesamte deutsche Arztpraxen-Versorgung.
Bislang war die Pharmaindustrie gegen Skandale immun und konnte ihre Bedingungen dem Gesundheitssystem diktieren. Die neuen innovativen Spieler auf dem Milliardenmarkt könnten aber bald mit viel gezielteren Mitteln die Macht von „Old Pharma“ brechen.
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